Der künftige Präsident der Türkei Recep Tayyip Erdogan galt vor rund zehn Jahren als ein Hoffnungsträger, der nach seinem fulminanten Wahlsieg im November 2002 als Chef der islamistischen AKP bei Begegnungen mit EU-Politikern und in öffentlichen Erklärungen die europäische Mission der Türkei betont hatte. Europa brauche ein Modell, um zu beweisen, dass Islam und Modernität zusammenleben können. Die Türkei sei ein solches Modell. Nach beeindruckenden wirtschaftlichen Erfolgen haben viele Beobachter die Chancen für einen langfristigen EU-Beitrittsprozess positiv beurteilt. Damals hieß es in manchen Kommentaren, die Türkei könnte den Ländern des Nahen Ostens sogar als Vorbild dienen. Zu diesem Eindruck trugen die für beide Seiten vorteilhaften Beziehungen zu Israel bei.

Der Wirtschaftsaufstieg seit 2002 mit Verdreifachung des Pro-Kopf-Einkommens und einer Steigerung des BIPs um 73 Prozent bildete zweifellos die Grundlage für weitere zwei Wahlsiege. Wie in der auch auf Türkisch erschienenen Titelgeschichte des Spiegel - "Der neue Sultan" - kürzlich festgestellt, wurde Erdogan mit jedem Wahlsieg autoritärer: "Der Reformer wurde zum Patriarchen, aus dem Hoffnungsträger wurde ein Risiko."

Erdogan ließ in den vergangenen Jahren Proteste brutal niederschlagen, kritische Journalisten und Schriftsteller verhaften, die Justiz, die Verwaltung und die Polizei säubern, die staatlichen Sender und einen großen Teil der Presse unter Kontrolle stellen. Die Türkei sei polarisiert wie nie zuvor, sagt die meistgelesene Schriftstellerin Elif Safak. "Die Menschen sind durch die Ultranationalisten eingeschüchtert. Erdogans Machtelite will den Menschen vorschreiben, wie sie leben sollen und ob sie in der Öffentlichkeit lachen dürfen." Erdogan setzt islamische Moralvorstellungen immer mehr durch. Die Untersuchungen wegen massiver Korruptionsvorwürfe gegen Erdogan, seine Familie und engste Mitarbeiter wurden nach Ablöse der unabhängig agierenden Staatsanwälte und Richter abgewürgt.

Der 60-jährige Politiker darf nach drei Amtszeiten nicht mehr als Ministerpräsident antreten. Deshalb will er nun als Präsident das Land in Richtung Muslimbruderschaft führen. "Unsere Mission hat gerade erst begonnen!" Mit diesem Ruf verabschiedet er sich bei den Massenversammlungen. Kein Wunder, dass seine Gegner fürchten, dass Erdogan die Macht nie mehr loslassen will.

Für das von ihm angestrebte Präsidialsystem bezeichnete er in einem TV-Interview China und Russland als Vorbilder. Der seit dem legendären Staatsgründer Kemal Atatürk zweifellos erfolgreichste türkische Politiker hat das Militär entmachtet und auch in der Kurdenpolitik Fortschritte erzielt. In der Außenpolitik ist die Türkei auch wegen der Unterstützung für die islamischen Extremisten gegen Assad in Syrien und infolge der Passivität gegen die jihadistische IS-Gruppe in Irak weitgehend isoliert. Dass Erdogan in seiner letzten Parlamentsrede Israels Aktionen im Gazastreifen als "schlimmer als Hitlers Verbrechen an den Juden" bezeichnet hat, schließt die Türkei - im Gegensatz zu Ägypten - als Vermittler zwischen Israelis und Palästinenser aus. (Paul Lendvai, DER STANDARD, 12.8.2014)