Alle Jahre wieder geistert das so genannte „Mehrheitswahlrecht“ durch die politische Landschaft. Diesmal propagiert von den Neos, die laut Standard die „österreichische Demokratie umbauen“ wollen. Mit einem verwässerten Einerwahlkreis-System „nach britischem Vorbild“ und mit einem Mandatsverbot, das sie über Funktionäre von Kammern und Interessenvertretungen verhängen wollen.

Letzteres verstößt mit Sicherheit gegen Verfassung und Gleichheitsgrundsätze, Ersteres hat mit Großbritannien wenig zu tun, weil 25 Prozent der Abgeordneten erst wieder über Parteilisten in den Nationalrat entsandt werden sollen. Das wäre eine Art Rettungsklausel für die Neos.

Das Team Stronach stellte sich sofort auf die Seite der Neos und verlangte „mehr Praxisbezug“ für Abgeordnete. Die sollten neben ihrer politischen Arbeit einem „Beruf“ nachgehen – 20 Stunden in der Woche. Die Stronachs hätten gleich sagen sollen,
was da herauskommen würde: Lobbyismus für Firmen (negativ), Augustin in Wien oder Megaphon in Graz verkaufen (positiv) oder Sozialdienst nach dem Modell Berlusconi (für verurteilte Politiker).

Beide, Neos und Team Stronach, vergessen wie schon etliche Persönlichkeitsfans (darunter der ehemalige Natio-nalratspräsident Andreas Khol mit seinen hundert Einerwahlkreisen von 2012), dass ja auch die britische Praxis
kein demokratischer Quantensprung ist. Die Kandidaten in den Einerwahlkreisen sind in den meisten Fällen Parteikandidaten. Denn wer soll die Wahlkämpfe finanzieren? Wenn man, wie die Neos, eine Entmachtung von SPÖ, ÖVP und wohl auch FPÖ anstrebt, müssen andere die Financiers spielen. Klar, Stronach könnte wieder einsteigen, aber es träten neue Gutmenschen auf den Plan – Wolfgang Fellner zum Beispiel, der in Österreich ohne Zögern die Anzeigen- und Redaktionsseiten für die „wahren ÖsterreicherInnen“ und für die „wirklich Unbestechlichen“ öffnen würde. Wahrlich, ein Umbau der Demokratie stünde dann bevor.

Angesichts derartiger Aussichten wäre zu wünschen, dass sich die Wiener Koalition (inklusive Bemühung um ÖVP-Mitarbeit) auf eine Reform des Wahlrechts in der Bundeshauptstadt einigen würde.

Dass die momentane Regelung (Mandatsmehrheit mit 45 Prozent der Stimmen) minderheitsfeindlich ist und ein bisschen nach Ungarn und Viktor Orbán riecht, ist unbestreitbar. Die im Zuge der Verhandlungen kolportierten 47 Prozent könnten sinnvoll sein.

Geht es doch (nicht nur für Wien) um zwei das parlamentarische System stärkende Verbesserungen. Erstens: Die Partei auf Platz eins sollte für ein Regierungsmandat forciert werden. Zweitens: Die schon vielfach diskutierte und zuletzt zaghaft umgesetzte Vorzugsstimmen-Regelung sollte noch massiver ausgebaut werden. Damit die Wähler sehen, dass sie etwas erreichen.

Vielleicht steigt dann auch wieder die Wahlbeteiligung. Denn selbst die harten innerparteilichen Vorwahl-Abstimmungen bei den Grünen haben am sinkenden Zuzug zu den Wahlen nichts geändert. (Gerfried Sperl, DER STANDARD, 11.8.2014)