Yavuz Baydar.

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Proteste der Aktivistengruppe "Bedrohte Voelker" in der Türkei.

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Der renommierte türkische Journalist und langjährige Leser-Ombudsmann Yavuz Baydar zeichnet ein verheerendes Bild von der Pressefreiheit in seinem Land. Regierungschef Tayyip Erdogan, der sich diesen Sonntag zum Präsidenten wählen lassen will, hat mittlerweile Fernsehen und Zeitungsredaktionen fest in seiner Hand. Baydar sprach mit Markus Bernath in Istanbul.

STANDARD: Wie viel Medienfreiheit gibt es in der Türkei?

Baydar: Derzeit sehr wenig. Etwa zehn bis 15 Prozent der konventionellen Medien kann man mit Blick auf die Eigentümer als unabhängig bezeichnen. Die so genannten öffentlichen Fernsehsender stehen sowieso unter der Kontrolle der Regierung, die privaten Medien mehr oder weniger auch. Der Industriekonglomerate wegen.

STANDARD: Sie haben die Chefs dieser Holdings einmal die „Koalition der Willigen“ genannt.

Baydar: Ich verwende den Ausdruck „Koalition der Willigen“ besonders für jene Medienbesitzer, die nicht die Weltanschauung der Regierung teilen, sondern aus der säkularen Richtung kommen wie etwa Aydin Dogan, Turgay Ciner oder Ferit Şahenk, der Eigentümer des Nachrichtensenders NTV. Diese Mediengruppen wurden gegründet und wurden einflussreich, noch bevor die AKP 2002 an die Macht kam. Gleichzeitig haben wir in den letzten acht oder zehn Jahren den Eintritt religiös-konservativer Unternehmer in den Medienmarkt erlebt, wie etwa Ahmet Çalik oder Ethem Sancak.*

Der „Koalition der Willigen“ geht es primär ums Geld. Die meisten dieser Medienbesitzer – vielleicht mit Ausnahme von Aydin Dogan – haben keine Ahnung von journalistischer Arbeit. Die öffentliche Aufgabe des Journalismus, seine ethische Seite kümmert sie nicht wirklich.

STANDARD: Für diese Leute sind Medien nur ein Werkzeug?

Baydar: Für sie sind Medien ein Werkzeug, um die finanzielle Position der Industriegruppen, die ihnen gehören, zu zementieren. Und möglichst auszubauen, vornehmlich durch öffentliche Aufträge und Ausschreibungen. Wir reden hier über enorme Summen, Milliarden von Euro, wie man zum Beispiel beim Galataport-Projekt in Istanbul gesehen hat (die Doguş-Holding erhielt 2013 den Zuschlag für den Neubau eines Hafens für Kreuzfahrtschiffe am Bosporus; Gesamtvolumen: 525 Mio. Euro), beim dritten Flughafen in Istanbul oder bei einer Reihe von Energieprojekten für die Çalik- und Ciner-Gruppe. Das alles ist ein System von Geld machen für die Unternehmen und Propaganda machen für die Regierung.

STANDARD: Unabhängigere Medien wie die Tageszeitung Taraf gehen neuerdings noch einen Schritt weiter. Sie haben den Ausdruck „havuz medya“ geprägt, den „Pool-Medien“, die von der Regierung zusammengekauft wurden.

Baydar: „Pool-Medien“ bedeutet erst einmal Intransparenz. Natürlich wissen wir, wer Aydin Dogan oder Ferit Şahenk sind, aber wir haben kein klares Bild über die Besitzverhältnisse der Medien in der Türkei. In einer Demokratie aber hat die Öffentlichkeit das Recht zu wissen, wer was besitzt, besonders im Medienbereich. „Pool-Medien“ ist ein neuer Ausdruck, der die Finanzierung von Medien durch eine Form von „Spenden“ beschreibt. Es funktioniert so: Ein Minister oder der Regierungschef selbst sagt einem Geschäftsmann X, „wir geben dir diesen Fünf-Milliarden-Auftrag, aber als eine Art Bonus für uns, kaufst du die Zeitung Y. Und wenn du sie nicht selbst kaufen willst, gehe in eine Art Konsortium mit anderen und stecke das Geld dort hinein“.

STANDARD. Das war so im Fall von Sabah www.sabah.com.tr und ATV?

Baydar: Ja, das ist sehr genau recherchiert worden, insbesondere von Bloomberg und Reuters. Die abgehörten und öffentlich gemachten Telefongespräche von Geschäftsleuten, die sich untereinander über diese Praktiken der Regierung beklagt haben, sind auch nie dementiert worden. Diese Unternehmer mussten Medien finanzieren, die nicht profitabel waren.

STANDARD: Wie können unabhängige Medien in der Türkei in einem solchen Umfeld bestehen?

Baydar: Sie können nur unter widrigen Umständen Journalismus betreiben, etwa in Form einer Stiftung, wie Cumhuriyet es tut. Das ist eine unabhängige Zeitung, wenn man das Kriterium der Eigentümerverhältnisse anlegt, auch wenn sie inhaltlich bisweilen am äußersten Ende des Säkularismus steht. Aber Cumhuriyet ist in der Berichterstattung seit den Korruptionsaffären der Regierung vom Dezember 2013 sehr mutig geworden. Taraf ist ein anderes Beispiel. Es gehört zwei Brüdern, die nur halb im Verlagswesen tätig sind (Başar und Savaş Arslan, Anm.). Ich würde auch Sözcü zu den unabhängigen Zeitungen zählen. Das ist ein Geschäftsmodell, das auf einer sehr kleinen Redaktion und einer sehr aggressiven Kommentarlinie gegen die Regierung beruht. Zaman gehört auch zu dieser Gruppe, es ist Teil eines großen Konsortiums von einem Dutzend Unternehmer, was die Zeitung widerstandsfähig gegen politischen Druck macht. Diese Modelle funktionieren. Und daneben gibt es noch die parteiische Presse in der Türkei, die allerdings nicht viel Umsatz macht – Birgün www.birgun.net , Sol www.gazete.sol.org.tr , Evrensel www.evrensel.net . Was das Fernsehen angeht, ist die Situation noch viel tragischer.

STANDARD: CNN Türk oder NTV scheinen im Präsidentenwahlkampf bisweilen mehr als früher um Ausgewogenheit bemüht.

Baydar: NTV ist so vorsichtig geworden, dass man schon von einem Nicht-Nachrichtensender sprechen kann. Ein ganz sorgfältig arrangiertes Verlautbarungsorgan, das seit den Gezi-Protesten 2013 jede redaktionelle Unabhängigkeit verloren hat. Gezi war die Zäsur. Es gab die Demonstrationen vor dem Fernsehgebäude, die Entlassungen und Rücktritte. Es hat der Redaktion das Genick gebrochen. NTV heute hat nichts mit dem Nachrichtensender zu tun, den die Zuschauer in der Türkei vor zehn oder zwölf Jahren kannten.

CNN Türk bemüht sich, noch etwas journalistische Arbeit zu leisten. Der Sender hinkt, die Berichte sind manchmal sehr vorsichtig, die Redaktion trägt die Narben einer starken internen Zensur. Habertürk hat in gewissem Maß NTV ersetzt. Es versucht, mitunter ein unabhängiges Profil zu zeigen.

STANDARD: Gezi war auch für Sie eine Zäsur.

Baydar: Oh ja. Aber nicht nur für mich. Es gab eine Menge von Entlassungen, viele Fälle von Einschüchterungen, eine wachsende Selbstzensur schon vor Gezi. In meinen Artikeln als Ombudsmann bei Sabah habe ich das mehr und mehr thematisiert. Der Posten eines Ombudsmann ist wie ein Barometer. Man beobachtet die Trends. Ich war ständig in Kontakt mit Reportern und Redakteuren im Newsroom. Sie haben sich in privaten Gesprächen beklagt. Die Dinge wurden einfach schlechter.

STANDARD: Wann hat das begonnen?

Baydar: Vor dem Fehlbombardement in Uludere im Dezember 2012, als die PKK-Operationen verlustreich wurden. Soldaten kamen immer wieder um, und dann war dieses spektakuläre Treffen in Ankara, zu dem der Premierminister die Verleger einbestellte. Einige Journalisten widersprachen laut dem, was dort beredet worden war. Eine von ihnen war Yasemin Çongar von Taraf (damals stellv. Chefredakteurin, mittlerweile ausgeschieden und bei P24), ein anderer Ekrem Dumanli von Zaman. Dieses Treffen wurde der Rammbock, mit dem die Festung eingenommen wurde. Denn alle Medienbesitzer waren mehr als willens – „Koalition der Willigen“ eben –, eine Selbstzensur einzuführen. Aydin Dogan hat dort nachweislich gesagt, denn jemand nahm das Treffen heimlich auf: Premierminister, wenn Sie möchten, dass wir einen Rat einrichten, um Nachrichten über den Terrorismus zu filtern, dann können wir das tun. Zu der Zeit lehnte selbst der Premierminister das ab und meinte, das ist nicht unsere Aufgabe. Dann kam dieses Bombardement in Uludere, und es wurde zur Generalprobe für die neue Weisung der Regierung: Der Tod der Dorfbewohner wurde von den Mainstream-Medien für 18, 19 Stunden völlig ausgeblendet. Der Druck auf die Redaktionen stieg, die ersten Kolumnisten mussten gehen...

STANDARD: Wann war es für Sie so weit?

Baydar: Erst kam Hasan Cemal von Milliyet www.milliyet.com.tr nach dem Scoop mit dem Protokoll von den PKK-Gesprächen im Frühjahr 2013. Es gab einen Aufschrei, und Hasan Cemal schrieb diesen eindrucksvollen Leitartikel: Sie, als Regierungschef, machen Ihre Arbeit; wir tun die unsere. Mischen Sie es nicht zusammen. Cemal wurde gefeuert. Ein 70 Jahre alter Veteran des türkischen Journalismus. Im Newsroom von Sabah wurden derweil die unabhängigen Kollegen kalt gestellt oder gekündigt. Als die Gezi-Proteste begannen, war die Zeitung schon streng kontrolliert. Ich schrieb meinen ersten Artikel, er wurde veröffentlicht, aber ich bekam Besuch in meinem Zimmer. Mir wurde erklärt: Die oben wollen nicht, dass du die Zeitung noch einmal kritisierst. Ich antwortete: Dafür werde ich bezahlt, und genau das werde ich weiter tun. Mein nächster
Artikel wurde zensiert. Darin ging es um die Dämonisierung des deutschen Nachrichtenmagazins Der Spiegel durch Sabah. Und auch um die Tatsache – die Leser hatten recht –, dass Sabah einige wesentliche Aspekte der Gezi-Proteste ignorierte. Das war der Anfang vom Ende. Ich nahm zwei Wochen Urlaub, ich schrieb einen Beitrag für die Kommentarseite der New York Times, die mich schon lange vor Gezi darum gebeten hatte. Dieser Text erschien an einem nachrichtenarmen Tag und er schlug wie eine Bombe ein. Sabah gab mir meine Entlassungspapiere. Als Kündigungsgrund führten sie an, dass ich für die New York Times geschrieben habe. Das Gerichtsverfahren läuft noch.

STANDARD: Das muss wohl auch abschreckend auf die Kollegen gewirkt haben.

Baydar: Die Regierung steckt die Journalisten nicht mehr ins Gefängnis. Entlassungen sind als neue Strafmaßnahme für Journalisten eingeführt worden. Es waren am Ende mehr als 200 – Kommentatoren, Reporter, Kameramänner. Und jene die gefeuert wurden, werden nicht mehr angestellt. Sie werden wie giftiges Material behandelt. Es war hart. Wir haben zusammen überlegt, was wir tun können. Wir haben uns entschieden, etwas aufzustellen, das uns ein bisschen Freiraum gibt und jüngeren Kollegen hilft. So entstand die Plattform24. Aber wir konnten das Wort „Plattform“ nicht mehr für den Namen einer Organisation benutzen, wie wir herausfanden. Es ist wegen Gezi und der Taksim-Plattform zu einem verbotenen Wort geworden. Jetzt heißt es Punto24, aber wir sagen untereinander „Plattform für unabhängigen Journalismus“.

STANDARD: Das ist die Zukunft des Journalismus in der Türkei?

Baydar: Ich glaube, die Lage der Medien in der Türkei wird noch viel schlechter werden. Es gibt immer noch Stimmen in den Medien, die Erdogan nicht mag. Die Regierung hat fast völlige Kontrolle über die TV-Kanäle genommen, und die sind die Hauptinformationsquelle in der Türkei. TRT und die Nachrichtenagentur Anadolu www.aa.com.tr sind seit Gezi Verlautbarungsorgane der Regierung geworden. Das Interesse für gedruckte Zeitungen lässt nach. Der einzige Kanal, der als einigermaßen professionelle Nachrichtenquelle überleben kann, ist das Internet. Die meisten unserer renommierten Kollegen suchen nun hier ihre Möglichkeiten, sich Gehör zu verschaffen. In diken, T24 oder anderen Plattformen. Das ist ein Mittel, um zu überleben, nicht um sich zu entwickeln.


Yavuz Baydar, 57, war Ombudsmann der Tageszeitung Sabah bis zu seiner Entlassung im Juli 2013, ist Kolumnist der Tageszeitung "Today's Zaman" und Gründungsmitglied von P24, einer Internet-Plattform für unabhängigen Journalismus in der Türkei, der sich Kommentatoren und Redakteure anschlossen, die vor und nach den Gezi-Protesten ihre Arbeit verloren hatten. Präsident von P24 ist Hasan Cemal. (Markus Bernath, DER STANDARD, 8./9.8.2014)