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Kurdische Peschmerga-Truppen versuchen die IS-Kämpfer in Schach zu halten.

Foto: Reuters/Stringer/Iraq

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Angehörige bei einem Begräbnis von kurdischen Kämpfern.

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Vatikanstadt/Wien/Bagdad - Mit ihrer Großoffensive im Nordirak haben die jihadistischen Kämpfer des Islamischen Staates (IS) rund 200.000 Menschen in den vergangenen Tagen in eine beispiellose Flucht getrieben. Während sich die kurdischen Peschmerga-Milizen zurückzogen haben, marschierte IS weiter vor und kontrolliert laut Augenzeugen seit Mittwochnacht die größte christliche Stadt des Landes, Qaraqosh.

Der Papst und Österreichs Kirchen riefen zu Gebeten und dem Ende der Gewalt im Irak auf. Paris forderte eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates. Trotz des Vormarsches der IS-Kämpfer gab es im Streit um das Amt des Regierungschefs auch zum Ende einer in der Verfassung vorgesehen Frist keine Einigung. Wie das unabhängige Nachrichtenportal "Sumaria News" am Donnerstag meldete, soll das Parlament erst am Sonntag wieder zusammenkommen, um über die Wahl des Ministerpräsidenten zu beraten. Ob dann tatsächlich abgestimmt wird, blieb zunächst offen.

Die Frist, binnen derer Präsident Fuad Massum einen Politiker mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragen muss, geht am Donnerstag zu Ende. Die großen politischen Blöcke streiten sich seit Wochen darum, wer nächster Ministerpräsident wird. Der schiitische Regierungschef Nuri al-Maliki besteht auf eine weitere Amtsperiode. Er beruft sich dabei auf die Wahlen Ende April, bei denen seine Rechtsstaats-Koalition als stärkste Kraft abgeschnitten hatte. Allerdings trifft Maliki bei sunnitischen, kurdischen und auch schiitischen Politiker auf starken Widerstand. Angesichts der militärischen Erfolge der IS haben die Kurden ihren Streit mit der Zentralregierung in Bagdad beigelegt und arbeiten militärisch mit ihr zusammen.

Die IS-Kämpfer stehen rund 100 Kilometer vor Bagdad, marschierten in der Region rund um die nordirakische Stadt Mossul und Kirkuk weiter vor und drohen, auch die Hauptstadt des Iraks einzunehmen. Nach UN-Angaben sind in den vergangenen Tagen fast 200.000 Menschen vor den Extremisten geflohen. Es handle sich um eine "Tragödie immensen Ausmaßes", sagte ein Sprecher der UN-Koordinationsstelle für humanitäre Einsätze. Von den Tausenden Jesiden, die in die Berge in der Nähe der Stadt Sinjar geflohen waren, seien einige gerettet worden, ergänzte der Sprecher.

Die Menschen benötigten dringend Wasser, Nahrungsmittel, Medizin und Zelte. Mehrere tausend jesidische Flüchtlinge flohen auch zur türkischen Grenze. Genau wie die Jesiden gelten auch Christen für die IS-Extremisten als Ungläubige. Sollten sie in die Hände der Rebellen fallen, droht ihnen die Zwangskonvertierung oder der Tod.

In der Region zwischen Mossul und Kirkuk hätten die Jihadisten Kirchen besetzt, Kreuze abgenommen und Schriften verbrannt, sagte der christlich-chaldäische Patriarch Louis Sako der Nachrichtenagentur AFP.

100.000 Christen geflohen

Mit nicht viel mehr als ihren Kleidern am Leib seien mindestens 100.000 Christen geflohen, um in der angrenzenden kurdischen Autonomiegebiete Schutz zu suchen, so Sako. "Das ist eine humanitäre Katastrophe." Voller "Schmerz und Trauer" wende er sich an den UN-Sicherheitsrat, die EU und Hilfsorganisationen, damit "den Menschen in Todesangst geholfen" werde.

Qaraqosh liegt zwischen Mossul, das ebenfalls bereits unter IS-Kontrolle steht, und Erbil, der Hauptstadt der autonomen kurdischen Gebiete. In der christlichen Stadt leben eigentlich rund 50.000 Menschen, zuletzt beherbergte Qaraqosh aber auch zahlreiche Christen, die aus Mossul vertrieben worden waren. Der Erzbischof von Kirkuk und Sulaimaniya, Joseph Thomas, sagte AFP, nahezu sämtliche Einwohner hätten Qaraqosh, Tall Kayf, Bartella und Karemlesh verlassen. Die Städte stünden nun "unter der Kontrolle militanter Kämpfer".

Butros Sargon, ein aus Tall Kayf geflohener Bewohner, sagte, seine Stadt befinde sich "in den Händen des Islamischen Staates". Die Kämpfer seien kurz nach Mitternacht gekommen und hätten "Gott ist groß" gerufen. Zuvor hatten sich kurdische Truppen aus dem Gebiet zurückgezogen, wie Augenzeugen berichteten.

Ein Sprecher der kurdischen Streitkräfte sagte, die Kämpfe mit den Jihadisten in Qaraqosh und al-Qosh nördlich von Tall Kayf dauerten an. Die Lage dort war unübersichtlich, zunächst konnte kein Augenzeuge diese Angaben bestätigen. Die Gruppe IS selbst veröffentlichte am Donnerstag eine Erklärung, in der sie sich mit einer "neuen Befreiung in der Provinz Ninive" brüstete. Diese werde den dortigen Kurden eine "Lehre" sein.

In der von Kurden kontrollierten nördlichen Stadt Kirkuk wurden bei einem Autobombenanschlag auf eine Moschee nach Angaben von Polizei und Ärzten sechs Menschen getötet und fast 40 weitere verletzt. Viele der Opfer waren Frauen und Kinder, die aus umliegenden Orten geflohen waren und in dem Gotteshaus Zuflucht gesucht hatten.

Hunderte der ebenfalls bedrohten Minderheit der Jesiden flohen unterdessen in die Türkei. Ein türkischer Diplomat sprach von 600 bis 800 Menschen, die seit Mittwoch angekommen seien. Die Flüchtlinge wurden in der grenznahen Stadt Silopi untergebracht. Zahlreiche weitere Familien, die in langen Märschen ohne Wasser und Essen geflohen waren, warteten nach Angaben der Behörden noch an der Grenze. Die Jesiden werden von den Jihadisten als "Teufelsanbeter" betrachtet und verfolgt. Auch die turkmenische Minderheit wird bedroht.

"EU darf nicht wegschauen"

Die Nationalratsabgeordnete Petra Bayr (SPÖ) meldete sich angesichts des IS-Vormarsches im Irak zu Wort: "Vor der Haustür der Europäischen Union erkämpfen islamistische Kräfte Territorium. Die EU darf nicht länger wegschauen", forderte sie in einer Aussendung vom Donnerstag eine rasche Reaktion der EU-Mitgliedstaaten gegen die IS im Nordirak. Die jihadistischen Kämpfer verfolgten Gläubige anderer Religionen, seien es Christen und die religiöse Minderheit der vor allem im Nordirak ansässigen Jesiden sowie Anhängern anderer islamischer Glaubensrichtungen.

Die IS-Gruppe hat einen Gottesstaat in Teilen des Iraks und Syriens ausgerufen. Die Extremisten haben nach Schätzungen der Beobachterstelle für Menschenrechte bereits rund ein Drittel des syrischen Staatsgebiets unter ihre Kontrolle gebracht. Die früher als Isis bekannte Bewegung teilte mit, sie habe seit dem Wochenende insgesamt 15 Städte sowie den größten Staudamm des Landes bei Mossul erobert. Die Offensive werde fortgesetzt. Aus kurdischen Kreisen wurde verlautete, der Damm am Tigris sei nicht eingenommen worden.

Angesichts des IS-Vormarsches im Irak forderte Frankreich eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates. Frankreichs Außenminister Laurent Fabius erklärte am Donnerstag in Paris, die internationale Gemeinschaft müsse handeln, um "der terroristische Bedrohung im Irak entgegenzutreten".

Papst Franziskus appellierte an die internationale Gemeinschaft, das "humanitäre Drama" im Norden des Irak zu beenden und die von Gewalt und Vertreibung betroffenen Menschen zu schützen. Man müsse dafür Sorge tragen, dass die zum Überleben notwendige humanitäre Hilfe zu den Flüchtlingen gelangen könne, heißt es in einer Erklärung von Vatikansprecher Federico Lombardi vom Donnerstag laut Kathpress.

Der Papst bekunde den Betroffenen seine Verbundenheit, appelliere an das Gewissen aller Menschen und bitte die Christen um ihr Gebet, hob er hervor. Auch Österreichs Kirchen rufen zum Gebet für das Land am Euphrat auf. Kardinal Christoph Schönborn wies dabei auf den Fast- und Gebetstag am Freitag, 8. August, hin. (APA, 7.8.2014)