Ab wann sollen österreichische Kinder mit Migrationshintergrund Deutsch erlernen? Für Kinder deutschsprachiger Eltern beginnt der Spracherwerb in dem Moment, in dem die Hebamme in der Klinik der Mutter das Neugeborene mit den Worten "So ein hübsches Mädchen" oder "A so a liaba Bua"" auf die Brust legt.

Die vom Integrationsbericht 2014 ausgelöste Debatte ist so sehr auf den institutionellen Aspekt der Integration durch Kindergarten und Schule fokussiert, dass übersehen wird, dass die fundamentale muttersprachliche Sozialisation und der Erwerb des Deutschen in den ersten drei Lebensjahren in der Familie, also vor dem Kindergarten, erfolgt - oder in vielen Migrantenfamilien eben nicht.

"Kloane Auslendakinda"?

Ein Kapitel des Berichts ist zwar mit "Integration von Anfang an" überschrieben, auf Seite 10 werden jedoch als Zielgruppe der "frühkindlichen Sprachförderung" nur Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren benannt. Was, um Christine Nöstlinger zu strapazieren, ist mit der sprachlichen Integration der "gaunz kloanan Auslendakinda"?

Ende Juni bat mich eine Studentin mit einem türkischen Namen per E-Mail um einen Sondertermin für eine Semesterschlussprüfung, weil ihr kleiner Sohn erkrankt war. Zynisch deformiert durch zig Prüfungsabmeldungen, die man als Hochschullehrer so erhält und in denen es vor kranken Kindern und verstorbenen Großvätern nur so wimmelt, vermutete ich: Vorlesung nicht besucht, miese Mitschrift erwischt, zu spät mit der Vorbereitung begonnen, daher vorgetäuschte Erkrankung eines fiktiven Kindes. Aber bitte ...

Zweite Generation

Selten hat Ernst Jandls "Werch ein Illtum!" so zugetroffen. Beim Ersatztermin entpuppte sich die mit einem Kopftuch und einem hellen, leichten, bodenlangen Mantel gekleidete junge Frau als in Wien geborene "Immigrantin der zweiten Generation". Sie sprach ein makelloses, elegantes Deutsch, offerierte mir eine (von mir nicht verlangte) ärztliche Bestätigung der Erkrankung ihres Sohns und legte souverän eine sehr gute Prüfung ab.

Beim anschließenden Gespräch erfuhr ich, dass sie das Lehramt Deutsch (!) und Geschichte studierte und dass ihr Sohn wieder gesund sei; er gehe aber nicht gerne in den Kindergarten. Als ich meinte, angesichts des hervorragenden Deutsch seiner Mama könne das wohl nicht an seiner Sprache liegen, entstand eine Verlegenheitspause, nach der sie gestand, dass sie mit ihrem Sohn zu Hause nur Türkisch spreche, ebenso die Oma und die gesamte Verwandtschaft, und dass in ihrem Freundinnenkreis alle jungen Mütter ebenfalls mit ihren Kindern Türkisch sprächen.

Ich war (fast) sprachlos: Hier war eine junge Mutter mit "Migrationshintergrund", die Deutsch besser beherrschte als die meisten "Ur-Österreicher und Ur-Österreicherinnen" und imstande gewesen wäre, ihrem Sohn mit der spielerischen Leichtigkeit der Mutter-Kind-Interaktion die sprachliche Integration in den schulischen und gesellschaftlichen Alltag Österreichs nicht nur zu erleichtern, sondern ihm den "competitive advantage" der echten Zweisprachigkeit zu vermitteln.

Geborgenheit

Sie "entschuldigte" ihre Praxis mit der Geborgenheit, die sie und ihr Sohn verspürten, wenn sie sich - "comme il faut" - so verhielten und so kommunizierten wie ihr soziales Umfeld, und sie äußerte die Befürchtung, der frühzeitige Gebrauch des Deutschen hätte in der "Turkish community" den Eindruck erwecken können, "etwas Besseres" sein zu wollen.

Ironie des Schicksals: "Alienation", also die Entfremdung von der familiären Herkunftskultur, die keinem sozialen Aufsteiger und erst recht keinem Umsteiger von der fremdsprachigen Migrationskultur zur Mehrheitskultur einer Gesellschaft erspart bleibt, war ein zentrales Thema meiner Vorlesung "Bildungssysteme im internationalen Vergleich", über die sie gerade die Prüfung abgelegt hatte.

Ich weiß nicht, wie "repräsentativ" diese junge Frau für Mütter mit türkischem (oder anderssprachigem) Migrationshintergrund in Österreich ist, aber die Vermutung scheint berechtigt, dass die meisten nicht so gut Deutsch können wie sie, insbesondere wenn es sich um "quereinsteigende", erwachsene Migrantinnen handelt, die in ihrem Herkunftland bloß einen Pflichtschulabschluss erworben haben. Was kann - was sollte - getan werden, um die Befähigung und Bereitschaft junger Mütter mit Migrationshintergrund zu stärken, ihre Kinder beim Erwerb des Deutschen zu unterstützen? (Natürlich sind auch die Väter und Großväter mitverantwortlich, und in der 2012 erschienenen OECD-Publikation "Let's read them a story" wird eine Fülle von internationalen Projekten präsentiert, wie Väter in die Pflicht genommen werden können, aber de facto sind meistens die Mütter die primären Akteure beim kleinkindlichen Spracherwerb.)

Lernprozess vorenthalten

Wer macht den jungen Migrantinnen-Müttern, die sicher alle das Beste für ihre Kinder wollen, eindringlich klar, dass sie durch die Meidung des Deutschen im alltäglichen Umgang ihren Kindern wichtige Lernprozesse vorenthalten und deren Bildungschancen nachhaltig mindern? Es reicht wohl nicht, ihnen das Beispiel ostasiatischer Migrantinnen vor Augen zu halten, die sich, ob in den Vereinigten Staaten, in Kanada oder in Österreich, mit unermüdlicher konfuzianischer Lernbereitschaft gemeinsam mit ihren Kindern die Sprache und die Kultur ihres neuen Heimatlandes erarbeiten.

Könnte man zum Beispiel das Erlernen der deutschen Sprache bzw. Sprachstandfeststellungen von Müttern und Kindern nicht in die Fürsorge im Rahmen des "Mutter-Kind-Passes" einbeziehen, und gäbe es hier nicht ein neues Aufgabenfeld für Erwachsenenbildung und Sozialarbeit? Vielleicht hat der Expertenrat für Integration in seinem Bericht 2015 dazu etwas zu sagen.

Mit seiner Empfehlung eines zweiten kostenfreien Kindergartenjahres für Vier- bis Fünfjährige setzt der Expertenrat übrigens keinen kühnen Schritt in die Welt des interventionistischen "nanny state", sondern befindet sich in bester OECD-Gesellschaft. So besuchen etwa in Frankreich ein Viertel der Zweijährigen und mehr als 90 Prozent der Dreijährigen auf freiwilliger Basis die vorschulische "école maternelle" , nicht zuletzt wegen der davon erwarteten frühkindlichen Sprachförderung.

Mehr Vorschulerziehung

Als vor einigen Jahren bei einer OECD-Konferenz mehrere Hundert Bildungsexperten gefragt wurden, welche Empfehlung sie ihren jeweiligen Bildungsministern geben würden, wenn sie nur einen einzigen Reformvorschlag machen könnten, war es mit überwältigender Mehrheit die Empfehlung: mindestens zwei Jahre hochqualitative Vorschulerziehung. Dennoch: Dass für viele Kinder die sprachlichen Weichen in das schulische, berufliche und gesellschaftliche Abseits schon in den ersten drei Lebensjahren gestellt werden, verdient mehr öffentliches Problembewusstsein, mehr sozialpädagogische Kreativität und mehr politisches Engagement.

Postskriptum: Die Schulen haben mit dem Deutsch, das manche Kinder schon im Kinderwagen lernen, keine besondere Freude, aber das - "Heast Oida!" - ist eine andere Geschichte. (Karl Heinz Gruber, DER STANDARD, 2.8.2014)