Die Kreativität der Werbebranche ist grenzenlos. Genauso wie die Phantasie unseres Autors Stefan Ender. Er denkt sich an dieser Stelle wöchentlich eine Geschichte zu einer aktuellen Werbekampagne aus. Das Magazin mit dem aktuellen Werbesujet fotografierte Lukas Friesenbichler, das Originalmotiv stammt von Mart Alas und Marcus Piggott.

Foto: Lukas Friesenbichler

Alessandra konnte mal wieder nicht einschlafen. Wie ein schweres wollenes Tuch lastete die drückende Schwüle über dem Vorort von Ferrara, in dem die junge, wohlgeformte Frau die winzigkleine Dachkammer eines baufälligen Mietshauses bewohnte.

Aber es waren nicht die belastenden atmosphärischen Umstände dieser Augustnacht, die Alessandra nach ihrem anstrengenden Arbeitstag als Parkraumbewirtschaftungskontrolleurin um ihre wohlverdiente Ruhe brachten. Nein, die junge Italienerin hatte gerade die Lektüre des letzten, resümierenden Kapitels von Peter Sloterdijks Buch „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ abgeschlossen und war ratlos und enttäuscht. Alessandra befand die Performance ihres philosophischen Heros in seinem neuesten Werk als etwas schlaff.

Foto: Lukas Friesenbichler

Hach, wie der herrlich horizonterweiternd Sloterdijk in seinem "Weltinnenraum des Kapitals“ den Siegeszug des Kapitalismus über die letzten Jahrhunderte hin, die Globalisierung und die dadurch entstandene Welt der "Verwöhnungsräume“ beschrieben hatte. „In der entlastungsgeprägten Welt gehen dem alten Müssen die Gründe aus. Wo Notwendigkeit war, kann Laune werden“. Und wie wundervoll wissensprall er in "Zorn und Zeit“ den Verkümmerungsprozess der göttlichen Gemütsregung des "thymós“, dieses "Regungsherd des stolzen Selbst“, geschildert und gleichzeitig noch eine ganze Kulturgeschichte von den alten Griechen bis heute mitserviert hatte.

Sicher, Sloterdijk war ein Pfau, der es liebte, sein Rad zu schlagen, aber für Alessandra waren seine vielen Metaphern und Wortneuschöpfungen gleichsam die schillernden Pfauenaugen im Federkleid dieses prächtigen Vogels. Männer, bei denen sich eine unerschöpfliche intellektuelle Potenz mit einer Lust am sinnesfrohen Entertainment paarte, machten sie einfach immer ganz wuschig.

Aber die Conclusio der "Schrecklichen Kinder der Neuzeit“ war dann doch etwas platt: "Mit der sich selbst erfüllenden Prognose der rhizomatischen ‚Gesellschaft‘ in der anarchistisch-wahrsagerischen Para-Psychiatrie des Poststrukturalismus ist die anti-genealogische Basistendenz der Neuzeit – als Summe aller Subversionen, Reklamationen, Verweigerungen, Usurpationen, Aspirationen und Hybridisierungen – in ihr Mündungsgebiet gelangt.“ No na.

Unruhig wälzte sich Alessandra auf ihrem schmalen Bett hin und her. Natürlich war Sloterdijks Pessimismus begründet, seine Argumente stichhaltig und seine Diagnosen treffsicher. Aber irgendwie tat er ihr auch leid. Ach, wie gern hätte Alessandra ihren Geisteshelden davon überzeugt, dass das Leben auch seine schönen Seiten haben konnte, obwohl menschheitsgeschichtlich mal wieder alles den Bach runter ging. (Stefan Ender, derStandard.at, 03.08.2014)