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"Der Kreml zeugt, wie die Knochen gewisser Riesenthiere, von der Geschichte einer Welt, an der wir unwillkürlich noch zweifeln, selbst wenn wir die Trümmer derselben wiederfinden": Den Berliner Moskau-Reisenden Walter Benjamin lehrte der Kreml, wie viele andere, das Staunen.

Archivfoto (1999): epa/Chirikov

So stupend die Idee, so verwunderlich ist, dass diese Geschichte bisher unerzählt geblieben ist. Erst die Engländerin Catherine Merridale hat nun gewagt, die mehr als 800 Jahre umfassende Geschichte des Kreml in Moskau zu schreiben. Um es gleich zu Beginn zu sagen: Sie hat ein großes Buch verfasst, ein gewaltiges, lehrreiches und gelehrtes, das sich schwungvoll liest und das weit mehr ist als nur die Geschichte aufgetürmter Steine, die anfangs eine Burg auf einem Hügel bildeten, dann zur Zitadelle wurden, schließlich zu einem großen Areal, das heute 27,5 Hektar umfasst.

Die in Cambridge ausgebildete Osteuropahistorikerin schildert den Kreml nicht aus architektonischer Sicht, jedenfalls nicht nur. Vielmehr hat sie die vielfältige Psychobiografie und vielgestaltige Psychogeografie einer ummauerten Residenz geschrieben, die zum Mythos geworden ist. Und zum Fokus russischer Geschichte. 1927 hielt der Berliner Moskau-Reisende Walter Benjamin, damals schon zum Marxismus konvertierter Essayist und Geschichtsphilosoph und finanziell noch einigermaßen gutsituierter Bürgersohn, staunend - und wie nicht wenige andere geblendet, hingerissen, verzaubert durch den Kreml, seine Aura und die Macht, die er über Jahrhunderte hinweg ausgestrahlt und zugleich in sich angesammelt hatte - fest: "Der Kreml zeugt, wie die Knochen gewisser Riesenthiere, von der Geschichte einer Welt, an der wir unwillkürlich noch zweifeln, selbst wenn wir die Trümmer derselben wiederfinden."

Knapp 90 Jahre zuvor hatte ein anderer Reisender, der Franzose Astolphe Marquis de Custine, angesichts des monumentalen Bauwerks einen abgrundtiefen Abscheu empfunden. Er brachte eine wutverzerrte Diatribe zu Papier, in welcher er den Sitz des Zaren als "Stütze der Tyrannen" beschimpfte, als "satanischen Bau", ja sogar als "eine Wohnung, welche für das Wesen der Apokalypse paßt".

Der Kreml ist Symbol und Inkarnation Russlands, er ist zum Sitz der nationalen Identität des gesamten Landes erhoben worden. Und dies nicht nur in bildlicher Hinsicht, als stetig reproduzierte Ikone aus roten Ziegelmauern, vergoldeten Kuppeln und orthodoxen Dreibalkenkreuzen. Er übte Schrecken aus, und unsagbare Grausamkeiten wurden auf seinem Areal begangen. Er überdauerte auch die guten Zeiten. Und wurde in nahezu jeder Generation verändert, umgebaut, erweitert. Oder, vor allem nach 1917, massiv verändert, geschleift, gesprengt, neu überbaut.

Allen diesen Verästelungen geht Catherine Merridale, Professorin an der Queen Mary University in London, von der es eine fulminante Geschichte der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg gibt und eine aufschlussreiche Studie über Tod und Erinnerungskulte im Russland seit 1900, in ihrer farbenreichen Historie nach, in der sich Mikro- mit Makrogeschichte vereinen. Und dies auf eine ebenso raffinierte und intelligente wie sympathische Art und Weise.

Von Monomach und Rurik über Iwan den Schrecklichen, das verheerende 17. Jahrhundert, in dem das russische Reich nahezu zerfiel, bis zum Aufstieg Russlands unter Peter dem Großen und dem Goldenen Säkulum der Kultur zwischen 1830 und 1914, von Puschkin über Tolstoj bis zu Malewitsch und den Kubo-Futuristen, dem gleichzeitigen politisch immer repressiveren, immer modernisierungsfeindlicheren Kurs der letzten Zaren der 300 Jahre lang regierenden Romanow-Dynastie und zu Lenin, Stalin, Jelzin und Putin reicht der gewaltige Bogen. Stets behält Merridale, dabei dramaturgisch abwechslungsreich, den Kreml im Blick: als Architektur, als Signum der Zeit, als reale Zentrale der Macht - und als Projektion. Nicht umsonst ist der Untertitel des englischen Originals viel präziser als jener der deutschen Ausgabe. The Secret Heart of Russia's History, das geheime Herz der Geschichte Russlands, lautet er.

Merkwürdig ist, dass ausgerechnet jenes Kapitel atmosphärisch am dünnsten anmutet, das die Jahre des Stalinismus behandelt. Dabei wurde Merridale einst in Birmingham über die Kommunistische Partei der Sowjetunion unter Stalin promoviert.

Hie und da irritieren auch, sich dann ab etwa der Zeit ab 1930 summierend, sprachliche Ungenauigkeiten und Flapsigkeiten wie gedankliche Verharmlosungen des gnadenlosen Terrors. Einmal schreibt sie von der "überzogenen Gewalt" von Stalins Regime, als sei Gewalt nicht per se überzogen. Vor allem wenn es nicht Gewalt war, sondern ein brutaler, pathologischer, allgegenwärtiger und jahrelanger Terror, mit dem der Georgier das Riesenreich und seine Bewohner überzog und im Zuge dessen ihm und seinen Schergen Abermillionen Menschen zum Opfer fielen.

Dafür entschädigt allerdings das Schlusskapitel über den Kreml, Moskau und die Sowjetunion ab den 1980er-Jahren. Vor allem sind Merridales Analysen der sklerotischen Spätphase unter Breschnew und Andropow erhellend sowie des Verhältnisses von Gorbatschow zu Jelzin und Jelzins zu Putin und aller zum Kreml.

Jelzin und Putin zeichnet sie als eindeutige Antidemokraten, als skrupellose Machtpolitiker, die Renationalisierung, die Inszenierung erfundener Traditionen und die Neo-Inthronisierung der Religion als Vehikel eingesetzt haben, um alle Hebel der Macht in Händen zu halten und zugleich das Land rücksichtslos finanziell auszuplündern. Die äußerst kostspieligen Restaurierungsmaßnahmen der letzten zwanzig Jahre im Kreml sind kaum anders einzustufen denn als ins Außen gewendete, medial höchst geschickt eingesetzte symbolische Aktionen.

Wer das Finale dieses klugen, hochinformierten Buches liest, weiß zugleich die aktuelle Politik des Kreml als mythischer "Kreml", die Propaganda und die faktischen Repressionen des mittlerweile unverhüllt agierenden Putin'schen Neoimperialismus präzis einzuordnen in die Geschichte Russlands. Schon zu Beginn schreibt Catherine Merridale: "Das Gebäude ist nicht demokratisch. Errichtet aus speziell gehärteten Ziegeln, waren die Mauern der ro- ten Festung für den Krieg vorgesehen." (Alexander Kluy, Album, DER STANDARD, 2./3.8.2014)