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Der aus Bayern stammende Christian Gerhartsreiter alias Clark Rockefeller wird wegen Mordes und Hochstapelei bis 2035 in einem kalifornischen Gefängnis hinter Gittern sitzen.

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US-Autor Walter Kirn: "Blut will reden".

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Wien - Manche Geschichten sind so unglaubwürdig, dass man sie nur erfinden kann. Sie werden aber dann doch zur Realität, weil es genügend Menschen gibt, die an diese Märchen glauben wollen - trotz aller Ungereimtheiten und offensichtlichen Lügen. US-Schriftsteller und Princeton-Absolvent Walter Kirn ist mit der Schaffung von Wirklichkeiten als Autor der erfolgreich verfilmten Romane Up in the Air oder Thumbsucker zwar bestens vertraut. Als Kirn aber 1998 Clark Rockefeller kennenlernt, wird er 15 Jahre lang Teil einer Lügengeschichte, die auch in der Literatur ihresgleichen sucht.

Walter Kirns jetzt auf Deutsch vorliegende Recherche Blut will reden - Eine wahre Geschichte von Mord und Maskerade (C.-H.-Beck-Verlag, aus dem Amerikanischen von Conny Lösch) wird diesbezüglich in ihrer waghalsigen Mischung aus persönlicher Vergangenheitsbewältigung, Autobiografie und Tatsachenthriller nicht nur zu einem Buch mindestens dieses Jahres.

Wie man am Ende der knapp 300 Seiten erfahren haben wird, liest sich das Buch unter anderem auch als literarische Ideengeschichte jener Mythen, die den amerikanischen Kontinent von jeher prägen: Ein Mann kommt aus dem Nichts und erfindet sich neu.

Walter Kirn lebt Ende der 1990er-Jahre abgeschieden in Montana. Er ist frisch geschieden und trinkt zu viel. Ein befreundetes schwerreiches, im Tierschutz aktives Pastoren-Ehepaar sucht zu dieser Zeit jemanden, der einen verkrüppelten Hund zu seinem neuen Pflegeplatz nach New York bringt. Das neue Herrchen heißt Clark Rockefeller, ja, einer aus "dem" Rockefeller-Clan. Der gibt sich nicht nur als Experte für die Pflege behinderter Tiere aus, er sammelt und handelt auch mit teurer moderner Kunst.

Bei der Übergabe des Tieres ist Kirn von diesem Rockefeller-Schnösel mit Sprechdurch- fall wenig angetan. Die Tatsache, dass dessen noble Stadtwohnung bis auf achtlos herumstehende Kunstwerke so gut wie leersteht und Rockefeller nie Geld für Restaurantrechnungen oder Taxis eingesteckt hat, macht Kirn nicht stutzig. Reiche Leute haben Spleens.

Immerhin aber wird Rockefeller in den besten Privatclubs hervorragend bedient, er besorgt als Mäzen von Museen wie dem Museum of Modern Art Schlüssel, um Kirn dort nächtliche Privatführungen zu gewähren. Und irgendwie scheint er auch dank seines regen Handels mit Kunst immer wieder zu Geld zu kommen.

Rockefeller berät weiters Banken in Sachen Hochfinanz und schreibt angeblich Romane in der Tradition der TV-Serie Star Trek. Bei zukünftigen Besuchen wird Kirn unter anderem Pop-Superstar Britney Spears oder den früheren deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl, die ihren guten Freund Clark Rockefeller gerade privat beehrt haben, jeweils knapp verpasst haben.

Als Kirn einmal erwähnt, dass er Probleme mit der Steuer habe, steckt Rockefeller ihm die Handynummer von US-Präsident Bush zu: "Hier, ruf George an!" Außerdem entwickelt Rockefeller gemeinsam mit dem US-Militär futuristische Raketentriebwerke. Rockefeller zeigt Kirn ein Foto der geheimen Labors. Darauf sieht man Wald. Kirn meint, da sei doch nichts. Rockefeller sagt: Aber du schaust doch direkt drauf, da, hinter den Bäumen!

Das alles klingt völlig absurd. Kirn ist dem Redeschwall und Werben Clark Rockefellers um Freundschaft aber längst verfallen; sicher auch deshalb, weil Kirn glauben will.

Allerdings wird Rockefeller Anfang 2012 überraschend eines Mordes angeklagt, der 27 Jahre zurückliegt. Walter Kirn erfährt entsetzt, dass sein Freund offensichtlich nicht nur ein absolutes Schwergewicht unter den Hochstaplern gewesen ist und die letzten drei Jahrzehnte unter mehreren Identitäten und Namen seinen Geschäften nachging.

Geboren wurde Rockefeller 1961 als Christian Gerhartsreiter im bayerischen Dorf Bergen. Mit 17 Jahren wanderte er als "Austauschschüler" in die USA aus und brach sämtliche Kontakte ab. Seine Spur verliert sich in immer wieder neu erfundenen Biografien. Gleich zu Beginn steht auch ein Mord. Gerhartsreiter brachte den Sohn seiner Gastfamilie um, zerstückelte ihn und verscharrte die Leichenteile im Garten.

"Künstlerisches Projekt"

Der Gerichtsprozess, den Christian Gerhartsreiter 2013 schweigend über sich ergehen lässt und der ihm eine bis 2035 währende Haftstrafe einbringt, war für Walter Kirn der Ausgangspunkt einer ihn selbst oft fassungslos machenden Recherche. Gerhartsreiter als begnadeter Soziopath saugte sein Lebensumfeld biografisch aus wie ein Vampir. Sein Mordopfer war zum Beispiel Star Trek-Fan und wollte später einmal Raketentriebwerke entwickeln.

Gerhartsreiter betrachtete sein Leben offenbar als künstlerisches Projekt, dessen Vorlagen sich, wie Kirn recherchiert, relativ plump bei Patricia Highsmith (die Ripley-Romane), Alfred Hitchcock oder in Der große Gatsby finden lassen. Manche Geschichten muss man dann doch nicht zur Gänze erfinden, man kann sie auch kopieren. Christian Gerhartsreiter schweigt dazu. (Christian Schachinger, DER STANDARD, 1.8.2014)