Spuren des Schlafs: Tests während der verschiedenen Schlafphasen sollen Aufschluss geben über die Verarbeitung von Reizen im Gehirn.

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Der Schlafforscher Manuel Schabus (37) will mithilfe von Gehirnwellenmessungen verlässlichere Diagnose- und Prognoseverfahren für Wachkomapatienten entwickeln.

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Salzburg - Frau A. kann sich nicht bewegen. Sie muss gefüttert, gewickelt, umgebettet und rund um die Uhr umsorgt werden. Vor vier Jahren erlitt A. bei der Operation eines Aneurysmas eine Gehirnblutung. Seitdem ist die Mittfünfzigerin im Wachkoma. Doch ihr linkes Auge ist klar und wach, es folgt dem Geschehen. "Sie versteht komplett. Wenn ich sie etwas frage, antwortet sie. Wir kommunizieren mit den Augen", sagt ihr Lebensgefährte. Er hat darum gekämpft, sie zu Hause pflegen zu dürfen, anstatt sie in einem Heim unterzubringen. Es scheint ihr gut zu tun. Immer wieder zeigt sie Emotionen: Manchmal lacht sie, und sogar geweint habe sie schon.

Etwa 800 bis 1000 Menschen leben laut der österreichischen Wachkoma-Gesellschaft hierzulande im Wachkoma, auch als apallisches Syndrom bekannt. Ausgelöst wird es durch schwere Schädel-Hirn-Verletzungen, etwa infolge eines Unfalls. Die Betroffenen bleiben in einem komaähnlichen Zustand mit zeitweise geöffneten Augen. Wie viel sie tatsächlich wahrnehmen und von ihrer Umgebung mitbekommen, bleibt aber meist ein Rätsel.

43 Prozent Fehldiagnosen

Nicht alle haben wie Frau A. das Glück, dass jemand an sie glaubt. "Die Fähigkeit von Wachkomapatienten, die Außenwelt wahrzunehmen, wird systematisch unterschätzt", sagt Manuel Schabus. "Studien haben gezeigt, dass es bis zu 43 Prozent Fehldiagnosen gibt." Der Schlafforscher von der Universität Salzburg entwickelt verlässlichere Diagnose- und Prognoseverfahren. Seine Arbeit wurde kürzlich mit einem Start-Preis des Wissenschaftsfonds FWF belohnt - das ist die höchste Auszeichnung für Nachwuchsforscher in Österreich.

"Üblicherweise wird der Zustand der Patienten anhand ihrer sprachlichen und körperlichen Reaktionen auf Reize eingeschätzt. Das ist sehr schwierig, da manche völlig bewegungsunfähig sind. Wir messen die Reaktionen direkt im Gehirn, um zu verstehen, was Wachkomapatienten noch wahrnehmen und erleben."

Fließende Übergänge

Wo fängt Bewusstsein an, und wo hört es auf? Das ist eine der zentralen Fragen, die Schabus und sein Team aus Psychologen im Labor für Schlaf-, Kognitions- und Bewusstseinsforschung der Uni Salzburg beschäftigt. Denn nicht nur im Wachkoma, auch im Alltag verschwimmen die Grenzen zwischen den Bewusstseinsstadien, am eindrucksvollsten beim Einschlafen oder Träumen.

Um mehr darüber herauszufinden, wie viel Bewusstsein überhaupt nötig ist, um Reize und Informationen zu verarbeiten, testet Schabus per Gehirnwellenmessung (EEG), was gesunde Testpersonen in den unterschiedlichen Schlafphasen wahrnehmen. "Wir wissen bereits, dass das Gehirn im Leichtschlaf und auch in bestimmten Wachkomazuständen auf den eigenen Namen stärker als auf fremde Namen reagiert."

Mit der Stimme der Mutter

Inwieweit komplexere Informationen verarbeitet werden können und ob im Tief- und Traumschlaf noch Reize unterschieden werden können, soll nun weiter erforscht werden. Dazu werden zunächst 30 gesunde Probanden in den verschiedenen Schlafphasen mit sechs Namen, darunter dem eigene, konfrontiert - einmal mit der Stimme der Mutter gesprochen und einmal mit einer unbekannten Stimme. "Erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass Wachkomapatienten für emotional besetzte Reize empfänglicher sind", erklärt Schabus.

Um feststellen zu können, welche Rolle das Bewusstsein bei der Reizverarbeitung spielt, werden die schlafenden Testpersonen in der Folge instruiert, sich auf einen bestimmten Namen zu konzentrieren. Ist tatsächlich Bewusstsein im Spiel und nicht nur ein automatischer Prozess im Gange, müsste die Gehirnantwort bei dem entsprechenden Namen stärker ausfallen, so die Forscher.

Die Ergebnisse der Gehirnwellenmessungen im Schlaf sollen dann als Basis für EEG-Tests mit Wachkomapatienten dienen. Das Wissenschafterteam arbeitet dazu mit der Albert-Schweitzer-Klinik in Graz und dem Geriatriezentrum am Wienerwald zusammen. "Es sollen jeweils 30 Personen mit minimalem Bewusstsein sowie mit apallischem Syndrom getestet werden, einmal kurz nach der Verletzung und dann nach größeren Zeitabständen."

Schlafspindeln

Ziel der Studie ist es, auf Basis der jeweiligen Gehirnaktivitäten auf die voraussichtliche Entwicklung des Patienten zu schließen. Ein wichtiger Marker sind die sogenannten Schlafspindeln, benannt nach sekundenschnellen, spindelähnlichen Ausschlägen am EEG, die besonders während des Einschlafens und im Leichtschlaf regelmäßig auftreten.

Schabus konnte bereits vor einigen Jahren zeigen, dass die Spindeln eine zentrale Rolle bei der Reaktion des Gehirns auf Reize spielen. Sobald sie auftauchen, ist der Draht zur Außenwelt unterbrochen, das Gehirn kann keinerlei Reize aufnehmen. Andererseits weisen sie auf eine gute neuronale Vernetzung im Gehirn hin und stehen mit hoher Intelligenz und Leistungsfähigkeit in Verbindung.

Während der Spindelaktivität ist das Gehirn quasi mit sich selbst beschäftigt: Vermutlich werden Informationen abgespeichert und ins Langzeitgedächtnis integriert. "Die Spindel erlaubt somit sowohl eine Aussage über die verbleibende Vernetzung als auch über die Lernfähigkeit im geschädigten Gehirn" - was entscheidend für die Wahl der Therapie sein kann.

Gestörter Tag-Nacht-Rhythmus

Ebenso wichtig für eine möglichst treffende Prognose des Komaverlaufs ist der richtige Testzeitpunkt: "Viele Wachkomapatienten haben einen gestörten Tag-Nacht-Rhythmus. Oft sind sie nur wenige Minuten aufnahmefähig - und das unregelmäßig über den ganzen Tag verteilt", betont Schabus. Daher werden die Patienten vor den Tests mehrere Wochen lang mithilfe von Bewegungssensoren, Kameras und Hormonmessungen beobachtet.

Normalerweise wird das Hormon Melatonin beim Einschlafen ausgeschüttet, beim Aufwachen sinkt der Spiegel hingegen wieder. Durch Hormongaben am Abend und Lichtstimulationen tagsüber soll der Tag-Nacht-Rhythmus verbessert werden, wodurch sich das Gehirn und der gesamte Organismus besser regenerieren und der optimale Testzeitpunkt festgelegt werden kann.

Keine Diskussion nach Fall Schuhmacher

Falsche Diagnosen können fatale Folgen haben: "In den USA kann es sein, dass Personen in einem kritischen Zustand gar nicht mehr wiederbelebt werden", sagt Schabus. "Auch in Österreich gibt es keine klaren Richtlinien, was in den verschiedenen Komaphasen gemacht werden soll, um die Rehabilitation bestmöglich zu fördern oder wann eine weitere Behandlung nicht zielführend scheint." Der Psychologe bedauert, dass auch der Fall Michael Schuhmacher keine ethische Diskussion zum Thema Wachkoma angestoßen hat. Die einzige Möglichkeit, um selbst zu entscheiden, ist die Patientenverfügung - doch die wird nach wie vor zu wenig genutzt. (Karin Krichmayr, DER STANDARD, 30.7.2014)