Oft werden die Figuren ihrer Romane gerade aus ihren Widersprüchen heraus greifbar und lebendig: Lydia Mischkulnig.

Foto: Marko Lipus

Im Wiener Nobelseniorenheim "Villa Aurelia" wohnt Giovanni, ein sadistischer, aber charmanter Greis. Um seinem Lebensabend noch ein bisschen Freude abzupressen, wünscht er sich - ein kleines Mädchen. Giovanni hat Geld; die Leiterin des Heims hat Geldsorgen und tatsächlich ein kleines Kind in Reichweite, allerdings einen Buben, ihren Großneffen Leon.

Seine Mutter ist bald überzeugt; kurzerhand wird Leon, wenn schon nicht in ein Kleid, so doch in einen Schottenrock und Spangenschuhe gesteckt und dem Alten zugeführt. Was der genau im Schilde führt? Man weiß es nicht. Man weiß auch nicht, was die mysteriöse Fremde will, die sich ständig in Giovannis Nähe aufhält; und als Giovanni tot aufgefunden wird, mit einem Loch im Genick, weiß man erst recht nicht.

So beginnt Lydia Mischkulnigs neuer Roman Vom Gebrauch der Wünsche einigermaßen verdächtig. Fünfzig Jahre müssen im Leben Leons vergehen, bis er und wir alle (vielleicht) die Wahrheit erfahren. Die Klammer des Buches bildet dabei der Tango - der Tanz, den Leon als Kind von Giovanni lernt und zu dem er viel später, am Ende des Romans (und seiner Ehe), zurückkehren wird. Inzwischen wird er liebender Vater, erfolgreicher Astrophysiker, erfolgloser Ehemann. Dennoch hat man das Gefühl, als würde er auf etwas warten.

Mischkulnig ist an der Gestaltung zerklüfteter, irritierender Psychologien gelegen: Das Kind Leon beispielsweise ist nicht bloß das Opfer seiner Zurichtung; es ist auch ein selbstherrlicher Zwerg, der mit Krull'scher Attitüde durch die Prunkräume des Heims turnt, dem sein Spiegelbild im goldenen Rahmen nicht schlecht gefällt - und der durchaus an seinem Peiniger Giovanni hängt.

Überfürsorgliche Mutter

"Mamu" ist seine überfürsorgliche, fast erdrückende Mutter, die ihren Sohn bis ins Kindergartenalter über Nacht wickelt, aber ihn dennoch den Wünschen des alten Giovanni ausliefert. Leons spätere Frau Elsbeth, sicher die interessanteste Figur des Romans, liebt zwar ihre Familie, glaubt aber, diese ihren Ambitionen als Schriftstellerin opfern zu müssen. Gerade aus ihren Widersprüchen heraus werden Mischkulnigs Charaktere oft greifbar und lebendig.

Nicht immer allerdings geht diese Rechnung auf. Als etwa Leon als Erwachsener von seiner letzten Tanzpartnerin erfährt, wie massiv der offenbar verdrängte Missbrauch in seiner Kindheit tatsächlich war, reagiert er - deutlich jenseits psychologischer Nachvollziehbarkeit - erleichtert. "Noch nie war er so im Reinen mit sich selber gewesen wie gerade jetzt." Hier wird Plausibilität vielleicht doch der Stilisierung des Protagonisten geopfert.

Verwunderlich ist, dass zu den Problemen des Romans auch ein perspektivisches zählt, verwunderlich insofern, als Mischkulnig zum Beispiel in ihrem Vorgängerroman Schwestern der Angst (2010) souverän die Sichtweise einer Verrückten inszeniert, oder in früheren Erzählungen schon einmal gewagt und literarisch ertragreich aus der Perspektive beispielsweise einer Firma erzählt (Macht euch keine Sorgen, 2009). Hier allerdings werden einem Fünfjährigen allzu elaborierte Formulierungen in den Mund gelegt: "Die Musik war tödlich verführerisch, sie wäre in der Lage, Schneemänner zu verführen, sich in die Sonne zu verlieben, dachte Leon."

Über den Tango gibt es allerhand Befremdliches zu lesen - beispielsweise dürfen Tänzerinnen hoffen, "von einem guten Tänzer zugeritten zu werden" -, und man hat letztlich kaum eine andere Wahl, als manches davon tatsächlich der Erzählinstanz anzulasten.

Kleinere Unachtsamkeiten

Dazu kommt eine Reihe kleinerer Unachtsamkeiten: Dass etwa der erwachsene Leon, immerhin Astrophysiker, der Meinung ist, es habe auf dem Mond "im tiefsten Krater minus dreihundert Grad Celsius", ist recht unwahrscheinlich; wenn über die Literatur seiner Frau angemerkt wird, sie sei eine "Poetik der Reinigung, nicht der Katharsis und des Trostes" , könnte ein Schelm im Altgriechisch-Wörterbuch nachschlagen; für einen ganzen Strauß vierblättrigen Klees sucht man wohl recht lange; und so fort.

Schwerer wiegt allerdings die Neigung der Autorin zu willkürlich anmutenden Wortspielen, die dann zuhauf und ziemlich ratlos im Text herumliegen. Und: Natürlich können Verstöße gegen die Sprachökonomie einem ästhetischen Kalkül entsprechen; hier allerdings gerät das Preziöse - auch in der Figurenrede - mitunter zur unfreiwillig komischen Pose.

"Die gewöhnlichsten Illustrationen kindlicher Fantasien für das Große, Ausgestorbene und Überlebte sind von der Sehnsucht nach Liebe überzuckert, die erst entzaubert wird, wenn die Geschichte wirkt, die durch das Altersheim geistert und in Urkunden Besitz als Beute der Feigheit entblättert." - Leons Kindheit verläuft also auch stilistisch nicht immer optimal. "Auch der letzte Kaffee muss einmal gekocht werden, und hier war nun die Zeit für den letzten Kaffee gekommen, und dieser letzte Kaffee war der erste letzte Kaffee." - Hier kocht also jemand Kaffee. Und als Leon Vater wird, liest man gar: "Die Wahrhaftigkeit des Momentes existiert im Leben Leons und verbürgt seine Menschlichkeit anthropologisch!" Dass das etwas heißt - und etwas Wichtiges -, muss man wohl dem Rufzeichen glauben. (Bernhard Oberreither, Album, DER STANDARD, 26./27.7.2014)