Klagt über ein verkrustetes Bildungssystem und über eine Steuerprogression, die den Arbeitnehmern zu wenig Geld lässt - was beides der Wirtschaft schadet: Kammerpräsident Christoph Leitl.

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Wien - Im Erdgeschoß des Verwaltungsgebäudes der Wirtschaftskammer Österreich findet gerade die "Kinder Business Week" statt, die Kindern zwischen acht und 14 Jahren ökonomisches Verständnis nahebringen soll. Hoch darüber, im zehnten Stock, sitzt Wirtschaftskammerpräsident Christoph Leitl und versucht, im Gespräch mit dem STANDARD einen theoretischen Überbau zu liefern.

Bildung, sagt er fast so leidenschaftlich wie bei seinen Ausführungen über die "tollen Betriebe", die er zu vertreten hat, sei ihm das größte Anliegen; die ideologischen Grabenkämpfe abzuschaffen die größte Aufgabe für die Regierung.

Annäherung an die Gesamtschule

Spricht sich der Kammerpräsident und Chef des ÖVP-Wirtschaftsbundes also für die Gesamtschule aus?

"Wir brauchen eine grundsätzliche Veränderung in der Herangehensweise - weg von den Kategorien, weg von den Fragen des Dienst- und Besoldungsrechts der Lehrer und hin zu den Talenten der jungen Menschen. Das muss das einzige Ziel sein. Wir brauchen eine begabungsdifferenzierte Schule, die die Stärken fördert und bei den Schwächen so weit hilft, dass man ein Minimum erreicht. Heute kann man mit lauter 'sehr gut' und einem 'nicht genügend' aus dem System herausfliegen", sagt Leitl.

Und erzählt von seiner Schulzeit: "Ich habe 90 Prozent meiner Kraft gebraucht, um durchzukommen, und nur zehn Prozent für meine wirklichen Interessen und Begabungen aufwenden können. Ich kann heute noch den Schrägriss von der Kugel samt Schlagschatten 45 Grad - mit dem Nachteil, dass ich das seit dem Verlassen des Schulgebäudes nicht mehr gebraucht habe. Für Sprachen, die ich viel mehr gebraucht hätte, habe ich dann zu wenig Zeit gehabt. Inzwischen schicken sich meine Enkel an, in ein im Wesentlichen unverändertes Schulsystem einzutreten."

Boni für erfolgreiche Schulleiter

Noch einmal: Wäre eine einheitliche Schule mit entsprechender persönlicher Förderung die Lösung? Leitl: "Einheit ist sehr gefährlich. Keinen Einheitsbrei! Sondern eine gemeinsame Schule mit Begabungsdiffenzierung." Wenn die Neue Mittelschule so umgesetzt werde, wie das die Sozialpartner wollen, wäre das aus seiner Sicht in Ordnung.

Dazu müssten verbindliche Bildungsziele festgelegt werden - darüber hinaus müsse es im Sinn der Schulautonomie aber einen Wettbewerb unter den Schulen geben: "Ein Direktor muss sein eigenes Team zusammenstellen können, wenn er die Standards übererfüllt, soll auch eine Bonifikation erfolgen. Da muss man die Schulen aus dem bürokratischen Korsett herauslösen." In Finnland komme von vier ins Bildungssystem gesteckten Euros drei bei den Schülern an, in Österreich verbrauche die Schulbürokratie beinahe zwei der vier Euros.

Leseschwäche - ein Skandal

Natürlich gehe es dabei auch um Rahmenbedingungen. Leitl nennt ein zweites Vorschuljahr als wichtig für die Sprachkompetenz, weil sich "nicht nur Kinder mit Migrationshintergrund mit der Sprache schwertun. Die sind von vornherein dazu verurteilt, dem Unterricht nicht folgen zu können. Zehn Prozent eines Geburtsjahrganges fallen aus dem System, weil sie die Pflichtschule nicht abgeschlossen haben. Das sind pro Jahr etwa 9000 junge Menschen. Wenn ich noch die dazurechne, die trotz Abschlusses nicht sinnerfassend lesen können, komme ich auf 20 Prozent. Ein Fünftel - ein Skandal."

Schlechtes Eigenmarketing der Regierung

Leitl lobt die Regierung dafür, dass sie allen jungen Menschen bis 18 eine Bildungsverpflichtung auferlegen will - und wundert sich selbst, dass die Regierung in ihrem Eigenmarketing nicht besser ist. Aber das sei deren Sache.

Auf die Frage des STANDARD, ob ihm denn egal sei, dass sich die Koalition in eine unergiebige Steuerreformdiskussion verstrickt, wird Leitl fast emotional: "Das ist mir überhaupt nicht wurscht. Dass wir im Rahmen der Kollektivvertragsverhandlungen großzügig waren, zeigt die Entwicklung der österreichischen Arbeitskosten im internationalen Vergleich. Dass bei den Leuten viel zu wenig davon angekommen ist, durch eine übermäßig hohe Progression, steht außer Frage. Erstmals ist im vergangenen Jahr der Konsum rückläufig gewesen. Das ist für mich ein Alarmsignal. Man muss alles tun, um die Kaufkraft zu stärken - den Leuten ist wurscht, was man 2015 oder 2016 tun kann. Sie fragen zu Recht: Was könnt ihr jetzt tun?"

Steuerbegünstigte Prämie

Leitls Anregung, die noch im Herbst in Kraft gesetzt werden könnte: Wenn erfolgreiche Unternehmen ihren Mitarbeitern eine Prämie zahlen, so sollten von 1000 Euro auch wirklich (ohne Wirkung der Progression) 750 Euro beim Mitarbeiter ankommen. Für den Staat wäre das kein Verlust, denn die Besteuerung eines im Unternehmen verbliebenen Gewinns im Wege der Körperschaftssteuer würde ja auch nur 25 Prozent des Betrags an Steuereinnahmen bringen. (Conrad Seidl, DER STANDARD, 24.7.2014)