Die russische Lokomotive als Bedrohung für die Ukraine. Filmstill aus Oles Sanins Nationalepos "The Guide".

Foto: filmfestival odessa

Lange Schlangen bildeten sich am vergangenen Freitag vor dem Festivalpalast Muzkomedii in Odessa. Die Menschen wollten an dem vielleicht wichtigsten Event des diesjährigen Filmfestivals teilnehmen: der Premiere von Sergej Loznitsas Dokumentarfilm Maidan, der in Cannes seine Weltpremiere erlebt hatte.

Maidan beginnt mit der Nationalhymne, wie sie an einem der frühen Demonstrationstage in Kiew gesungen worden war. Die meisten Zuschauer erhoben sich sofort von ihren Sitzen, und als danach auch noch der Ruf "Slava Ukraini" ("Ruhm der Ukraine") zu vernehmen war, antworteten sie selbst - wie auch die Menschen im Film - mit der entsprechenden Parole: "Ruhm den Helden".

Es war ein Moment einer Kommunikation, die aus einem Dokumentarfilm eigentlich etwas anderes werden lässt: eine Feierstunde, eine politische Deklaration. Doch Loznitsa schien diese überzogene Erwartungshaltung mitbedacht zu haben, denn in Maidan ist die Hymne noch zwei weitere Male zu hören, einmal gesungen von einer Gruppe von Volksmusikern, einmal wieder im Kollektiv.

Das Publikum in Odessa musste also jedes Mal spontan entscheiden, ob es sich in einem Dokumentarfilm befand oder in einer Fortsetzung der Demonstrationen.

In dem einen Fall blieben alle sitzen, beim zweiten Mal erhoben sich die meisten. Danach begab sich der Film auf eine Reise in die Finsternis. Für die Geburtsurkunde einer Nation eignet sich Loznitsas Maidan nicht, zu stark legt er Wert auf die Unübersichtlichkeit der Lage, zu sehr lässt er die Rauchschwaden, von denen der Maidan in der späten Phase der Demonstrationen verhangen war, zum Bild einer Verdüsterung der politischen Situation werden.

Und doch reagierte das Publikum positiv, um nicht zu sagen: demokratisch. Obwohl fast durchwegs zu vernehmen war, dass das "nicht mein Maidan" war, konnte Loznitsa doch ausführlich darlegen, was für ihn wichtig war. Dass dieser Abend nicht nur ohne Zwischenfälle verlief, sondern zu einem Testfall von Unterscheidungslogiken werden konnte, auf denen Demokratie essenziell beruht, musste umso stärker ins Auge fallen, als zwei Tage davor ein anderer Film eine ganz andere, einsinnigere Reaktion hervorgerufen hatte.

The Guide von Oles Sanin ist ein Nationalepos reinsten Wassers. Der entscheidende historische Moment ist dabei der, in dem der sowjetische Kommunismus sich als der Feind der Ukraine erwies: die Jahre 1933/34, die in den von vielen Menschen in der Ukraine als Völkermord begriffenen Holodomor mündeten.

Der millionenfache Hungertod wird in The Guide geschickt mit der Ermordung zahlreicher "Kobzaren" in Beziehung gesetzt, also von Sängern, die mit ihrem Liedgut die nationalen Traditionen verbreiteten. Der "Führer", von dem im Titel die Rede ist, ist ein blinder, alter Mann, der mit einem Knaben im Schlepptau durch das Land irrt, immer bedroht von der Geheimpolizei.

Die emotionalen Konstellationen von The Guide sind eins zu eins in die Gegenwart übertragbar. Die kommunistischen Schergen lassen sich problemlos mit russischen Nationalisten identifizieren, die keinen Sinn für die ukrainische "Seele" haben, die für das Lied von den Kosaken taub sind, und die den "Saporoger Sitsch", einen ukrainischen Gründungsmythos, für ein Märchen halten. Vor allem aber verteilt The Guide ganz eindeutig die Gewalt: die Ukraine wird zu einem Land des Leidens.

Ob sich auf so einem Opfermythos ein praktikabler Patriotismus begründen lässt? Das Publikum beim Festival in Odessa dankte auf jeden Fall mit Szenenapplaus und war sichtlich ergriffen. Es wird wohl vor allem an einer Generation jüngerer Filmemacher liegen, diesem unverhohlen geschichtspolitischen Nationalkino ein differenzierteres Modell entgegenzusetzen. Etwa das Feld, das sich um Volodymyr Tykhy gebildet hat, der Kurzfilm-Anthologien wie Goodbye Ukraine initiierte.

Er gab in Odessa einen Workshop, in dem er darüber sprach, wie sich gesellschaftliche Verhältnisse in Form von Horrorfilmen ausdrücken lassen. Die Jury des nationalen Wettbewerbs bewies schließlich auch Verstand und sah von einer Auszeichnung für The Guide ab. Ausgezeichnet wurde Crepuscule, ein knapp einstündiger Dokumentarfilm von Valentyn Vasyanovych, in dem eindringlich zu sehen ist, wie wenig idyllisch das Leben auf dem Land in der Ukraine zumeist ist. (Bert Rebhandl aus Odessa, DER STANDARD, 22.7.2014)