Trojanows Operama

Unser gegenwärtiges Opernleben ist reichhaltig, aber ist es auch relevant? Auf subjektiv eigenwillige Weise, in einem literarischen Ton, wird Ilija Trojanow die Bedeutung des Musiktheaters heute anhand von aktuellen Aufführungen in Wien und anderswo unter die Lupe nehmen. Und sich immer wieder die Frage stellen, ob und wie sich unsere Zeit in den Inszenierungen widerspiegelt. Hintergrundberichte, Porträts und Interviews runden das Operama ab.

La Bohème – Giacomo Puccini (Oper Stuttgart, 30. Juni 2014)

La Traviata – Giuseppe Verdi (Theater an der Wien, 6. Juli 2014)

Bild: Oliver Schopf

Es könnte sein, dass ein Evergreen nie vergeht, weil seine Blüten aus Plastik sind. Die Häuser in Stuttgart und Wien machen vor, wie man die zwei wohl populärsten italienischen Opern aus dem Mumienschanz heraus ins Leben rettet: durch radikale Entrümpelung und Entkaramelissierung.

1. La Bohème

Die Bohemiens sind tot, es leben die Bobos. Es kann sein, dass der Bobo mal knapp bei Kasse ist, aber er verfügt über eine Lebensversicherung. Er opfert sich weiterhin für die freie Kunst, doch er selbst ist Teil des öffentlich gemachten Rituals. Die Grenzen zwischen Kunstwerk und Künstler verfließen zunehmend. Weswegen der kreative Bobo stets Digitalkameras auf sein Tun und Wirken richtet, Berichte von der heimischen Simulationsfront, im Bewusstsein, dass alles Ware ist (oder sein könnte), deren Wert unvorhersehbaren Konjunkturen unterliegt. Der Bobo mag zwar global unterwegs sein, ist aber (zwischenzeitlich zumindest) in Stuttgart verankert, repräsentiert durch Markthalle und Stiftskirche; das Logo von Mercedes verhält sich zum Peace-Zeichen wie Kunst zu Kunstmarkt; unverkennbar das inzwischen aufgegebene Café Scholz mit seinen typischen hellgrünen Stühlen. Über allem schwebt die segnende Präsenz des Spätzleschwabs. Und um die ebenfalls verschwimmende Grenze zwischen Privatsphäre und öffentlichem Raum sichtbar zu machen, ist dieses Stuttgart vollgesprüht mit Sprüchen. "Heimat love you" auf einem Container etwa oder "What the fuck is Heimat" auf einer Wand.

Foto: a. t. schaefer

Das allgegenwärtige Atelier (im dritten Akt arbeiten die Bobo-Künstler gar im Puff) ist von Andrea Moses (ihre mit Abstand beste Regiearbeit in Stuttgart) und Stefan Strumbel/Susanne Gschwender bereitet – die Musik kann ertönen.

Foto: a. t. schaefer

2. La Traviata

Ein minimalistisches Bühnenbild, will sagen, ein sehr reduziertes Bühnenbild, will sagen, gar kein Bühnenbild, sondern nur sieben Vorhänge, farblich changierend zwischen kardinalsrot und sadhuorange. Ach, fast hätte ich es vergessen, ein Stuhl ist auch dabei. Alles, was im Raum stünde, würde eine Dreidimensionalität behaupten, die dem Tod nicht gerecht wird, die der Tod zersprengt oder überwindet oder negiert. Hier geht es nur um ihn, den Tod. Dem Zuschauer wird es schwer gemacht, sich gemütlich im Dekor einzurichten, sich voreilig anhand der gewählten Requisiten zu orientieren, sich im Fehlglauben, die Stoßrichtung der Inszenierung begriffen zu haben, zu entspannen. Der Tod wird in der Oper meistens durch das, was wir als „bewegend“ zu bezeichnen pflegen, verniedlicht. In Werken wie "La Traviata" (oder auch "La Bohème") wird gemeinhin trostvoll versöhnlich schwelgerisch ekstatisch gestorben. Nicht so bei Altmeister Peter Konwitschny, der den Tod als ultimative Einsamkeit in unser Bewusstsein hineinwuchtet, als sukzessive Entäußerung der sozialen Bindungen, die sich selbst durch hochtrabende Begriffe wie "Liebe" gegen das Vergehen zu immunisieren versuchen – vergeblich. Am Ende liegt Violetta (durchweg so stark wie sie schwach ist) allein auf der Bühne, alle anderen Menschen um sie herum tummeln sich im Zuschauerraum und blicken auf ihr Ende mit der Distanz, die einem jeden Zuschauer auch eigen ist, und mag er aufgrund der genialen Musik noch so viel Empathie empfinden.

3. Die Musik

Keine inszenatorische Entrümpelung funktioniert nur durch die entsprechende Musikbegleitung. Ein Zufall gewiss, dass sowohl Simon Hewett in Stuttgart wie auch Sian Edwards mit angelsächsischer No-nonsense-Attitüde die Musik einer entsprechenden Diät unterwerfen, triefenden Honig wie auch sahnige Fülle verbannen, schnörkellos und fast nüchtern großen Schmerz hörbar machen im klanglichen Understatement.

Höhepunkt: Wie der Vater Germont (der wunderbare Roberto Frontali) auf einmal neben mir steht (der Platz zuäußerst einer Parkettreihe erwies sich als enormer Vorteil), gerade einmal 30-40 Zentimeter entfernt – was für eine Naturgewalt, als er zu singen beginnt, Abschied nehmend von Violetta, die allein auf der Bühne übrig bleibt. Um die Urkraft des Gesangs zu erfahren, müsste man selbst auf der Bühne stehen.

Coda: Mit "La Bohème" endlich versöhnt (und dadurch mit meinem Großvater, siehe "Oper, ein Hochleistungssport"), "La Traviata" neu entdeckt (die einzige Oper, die ich auf vier Kontinenten erlebt habe) – und dazwischen ein torreicher Sommer. (Ilija Trojanow, derStandard.at, 17.7.2014)