Beer: "Stetig steigende Klagsfälle."

Investor-Staat-Schiedsverfahren (ISDS) ermöglichen multinationalen Unternehmen, nationale Gerichte auszusparen und vor privaten Schiedsgerichten Staaten auf hohe Schadensersatzzahlungen zu verklagen. Dieses Privileg wollen die EU und USA ihrer Wirtschaft im zukünftigen größten Wirtschaftsraum TTIP zugestehen. Der vermeintliche Reformansatz der Europäischen Kommission soll Kritiker beruhigen. Doch er geht nicht auf das Grundübel des Schiedsverfahrens ein. Daher sind Investitionsschutzbestimmungen in Freihandelsabkommen mit Ländern wie Kanada, Japan, Singapur und insbesondere auch den USA demokratiepolitisch höchst bedenklich und abzulehnen:

  • Schlüssige Argumente für Sonderklagerechte fehlen: Die Industrieländer haben jahrzehntelang keine Notwendigkeit gesehen, ihren kapitalexportierenden Unternehmen einen besonderen Schutz zu gewähren, weil sie eine hochentwickelte Rechtsstaatlichkeit und Rechtskultur haben, die obendrein auch kostengünstig ist. Den Schutz vor "staatlicher Willkür" oder Diskriminierung gewähren die nationalen Gesetze den In- wie Ausländern in gleichem Maße.
  • Staaten haben im Schiedsverfahren nichts zu gewinnen. Im Gegenteil, sie müssen Regulierungen im Gemeinwohlinteresse, die sich durch demokratische Abstimmungs- und parlamentarische Willensbildungsprozesse ergeben und den politischen Willen der Bevölkerung widerspiegeln, vor einem privaten Schiedsgericht teuer verteidigen. Die Kosten haben die jeweiligen Parteien meist selbst zu tragen. Allein das Verfahren kostet durchschnittlich 800.000 Dollar, hinzu kommen noch die Anwaltskosten.
  • Privatisierung der Gerichtsbarkeit ist abzulehnen: Das private Ad-hoc-Schiedsverfahren ISDS ist inkonsistent, teuer, unberechenbar sowie in Einzelfällen parteiisch. Die Schiedsverfahren sind ein boomender Geschäftszweig insbesondere für spezialisierte Anwaltskanzleien. Dies zeigen auch die stetig steigenden Klagefälle (in den vergangenen Jahren jährlich rund 60 neue Klagen), wobei nur ein Bruchteil öffentlich bekanntgemacht wird. Hier haben wir es zusehends mit profitorientierten Einzelinteressen zu tun, denen es nicht um Fairness und Gemeinwohl geht.
  • Private Schiedsgerichte sind nicht geeignet, Sachverhalte zu lösen, die im Kern Dispute um öffentliche Regulierung sind. Darüber hinaus wirkt ISDS realpolitisch schon in der Androhung von Klagen, da Gastländer, um Klagen zu vermeiden, ihren politischen Handlungsspielraum einschränken.
  • Klagen gegen indirekte Enteignung richten sich gegen das Gemeinwohl: Die gut dokumentierten Investorklagen im Rahmen des seit 20 Jahren bestehenden nordamerikanischen Freihandelsabkommens Nafta veranschaulichen, wie das Klageprivileg von Konzernen gegen Regulierungen im öffentlichen Interesse eingesetzt wird. Die überwiegende Zahl der Klagen hat sich gegen Kanada und die USA gerichtet (29 Fälle). Hierbei wurden u. a. das Verbot von gesundheitlich schädlichen Stoffen, angebliche Diskriminierung in der Vergabepolitik, Umweltmaßnahmen insbesondere im Bergbau (z. B. Fracking-Moratorium), Lizenzvergaben, Steuergesetze, Förderungen von öffentlichen Dienstleistungen etc. angefochten. Die Konzerne versuchen, horrende Entschädigungszahlungen für den Profitentgang aufgrund neuer Regulierungen einzuklagen.

Die positive Diskriminierung von US-Investoren würde die bestehenden einheitlichen Wettbewerbsbedingungen für in- und ausländische Investoren zunichtemachen. Diese Ungleichbehandlung wird derzeit in der deutschen Atomindustrie veranschaulicht: Der schwedische Konzern Vattenfall kann den deutschen Staat wegen des Atomausstiegsgesetzes aufgrund des Sonderklagerechts in der Energie-Charta auf 3,5 Mrd. Euro Schadenersatz verklagen; den ebenso betroffenen deutschen Energiekonzernen steht nur der Gang zum Verfassungsgericht wegen "Unverhältnismäßigkeit" offen.

Diese Gründe reichen wohl, um die Investor-Staat-Streitbeilegung energisch abzulehnen. (Elisabeth Beer, DER STANDARD, 15.7.2014)