Reichenau/Rax - "Was für Gesichter!", empört sich Josef K. Richtung Publikum. Für Augenblicke werden die Gäste der Festspiele Reichenau zu einer Versammlung von Gerichtsbesuchern, die der Angeklagte K. als Bande von "Schnüfflern" entlarvt. Das Publikum einzubeziehen - wenn auch nur andeutungsweise -, ist bei einer Bühnenfassung von Franz Kafkas Romanfragment Der Prozess schlüssig. Immerhin muss Josef K. darin irgendwann erfahren: "Alles gehört zum Gericht!"

Am Morgen seines 30. Geburtstags sieht sich der Bankprokurist mit einer Anklage konfrontiert, für die man ihm keine Begründung nennt. Das Gericht stellt sich bei Nachforschungen als ebenso unnahbar wie unberechenbar heraus. Alle sind immer nur kleine Rädchen einer Maschine, die keiner ganz durchschaut. Enthüllungen, die K. dank mehr oder weniger dubioser Unterstützer gelingen, stürzen ihn in immer noch größere Verwirrung und Isolation.

Ein "liturgisches Passionsspiel" nennt Renate Loidolt die von ihr bearbeitete und inszenierte Fassung des Klassikers, die am Wochenende Premiere feierte. Den Fehler, Kafka entschlüsseln zu wollen, macht Loidolt nicht, sie akzentuiert lediglich, was schon angelegt ist. Die Abstriche, die Loidolt vom Gehalt der Kafka-Prosa machen musste, können in den 90 Minuten des Stücks jedoch trotz aller Bemühungen der vier Akteure nur zum Teil aufgewogen werden.

Schöne Perspektiven ermöglicht zunächst die fast freudianische Dreiteilung des Texts: Chris Pichler verkörpert naiv oder lasziv sämtliche Frauenfiguren, als doppelbödig devotes "Es" unterwandert sie jene männlich-bürokratischen Strukturen, deren Protagonisten vom wandelbaren "Über-Ich" Joseph Lorenz verkörpert werden. Dominik Raneburger steht als K. dazwischen, die Prosa Kafkas teilen sich - inklusive Erzählerstimme - alle drei. Schwarzweiße Filzstiftzerrbilder von Intendant Peter Loidolt passen zu den Kostümen und erinnern an die Traumlogik bei Kafka.

Loidolts Inszenierung - mit Klavierbegleitung von Helmut T. Stippich - bietet einen Überblick, bleibt aber eher an der Oberfläche des Textes. Die schauspielerischen Möglichkeiten, die Kafka etwa als Beobachter des Missverhältnisses zwischen Fühlen und Handeln angelegt hat, sind nur ansatzweise ausgeschöpft. (Roman Gerold, DER STANDARD, 15.7.2014)