Es liegt im Naturell des Fußballfans, dass er nach Toren lechzt wie Richard Lugner nach jugendliche Damen. Ohne Tore könnte der Fußball nicht existieren. Sie sind das Salz in der Suppe, der Höhepunkt beim Liebesspiel, das Krügerl nach dem Wandern. Ohne Tore wäre Fußball beinahe so etwas wie Formel 1. Alles würde sich im Kreis drehen. Von Toren kann man daher selten genug kriegen.

Andererseits: Sind sieben Stück nicht zu viel?

Noch dazu gegen den stolzen Gastgeber. Und drei Stück im Spiel darauf? Wer will schon kleine brasilianische Kinder weinen sehen? Niemand. Keiner wollte, dass sie da stehen, in den Stadien ihrer Heimat, in die Farben ihres Landes gewickelt, mit dem letzten Stolz im Rucksack – und dann das. Der Schrei der brasilianischen  Fans war lauter als es jener der Deutschen oder Holländer je sein hätte können.

Fußball dient als Katalysator

Man könnte natürlich sagen: Die Menschen in Brasilien haben weit größere Probleme, als dass sie über zwei verlorene Fußballspiele tatsächlich weinen sollten. Aber gerade deshalb tun sie es. Der Fußball dient als Katalysator, als Scheinwelt, als Zufluchtsort vor der grausamen Realität. Ein Problem wird das nur, wenn der Fußball genauso grausam wird wie der ganze Rest. Dann ist alles grausam, ohne Lichtblick, den die Menschen aber so dringend brauchen. Ein 7:1 im Halbfinale ist grausam. Ein 3:0 im Spiel um Platz drei nicht weniger.

Schluss mit Ehrgeiz?

Aber was wäre die Alternative gewesen? Hätten Deutschland und Holland einfach weniger konsequent sein müssen? Hätte Löw nach drei Toren und der ersten Million Tränen einen Nichtangriffspakt verordnen sollen? In den sozialen Netzwerken entluden sich derartige Aufforderungen: Das kann man doch nicht machen, nicht mit dem Gastgeber, nicht mit Brasilien, dieser stolzen Fußballgroßmacht. Denkt denn keiner an die Kinder? Denkt denn keiner an deren Stolz? Irgendwo muss doch, bei allem Ehrgeiz, auch mal Schluss sein.

Schaltete man gegen Brasilien zurück, macht man es automatisch zum Niemandsland

Die Alternative wäre gewesen, nicht mehr Vollgas zu geben, einen oder mehrere Gänge zurückzuschalten, vom Gas zu gehen, die Brasilianer aus Mitleid zu schonen. Aber wäre das nicht die viel größere Demütigung gewesen? Man könnte jetzt damit argumentieren, dass es das Ziel einer funktionierenden Gesellschaft ist, die Schwächeren zu schützen. Warum also nicht auch Schutz für eine schwächere Fußballmannschaft?

Brasilien kein Gegner?

Andererseits: Fußball ist Wettkampfsport. Und wer den Wettkampf nicht annimmt, der demütigt sein Gegenüber automatisch. Hätten Deutsche oder Holländer zurückgeschalten, hätte man dem Gastgeber genau jenen Respekt nicht gezollt, den viele mit einem Zurückschalt-Gebot einfordern. Man hätte dem Gastgeber gezeigt: Mit dir kann man nicht auf Augenhöhe spielen. Du bist kein Gegner für uns. Heute schalten Mannschaften wie Deutschland oder Holland nicht einmal mehr gegen Zwergen-Staaten zurück. Tut man das gegen Brasilien, macht man es automatisch zum Niemandsland.

Brasilien fehlen Trainer und Nachwuchsförderung

Deutschland und Holland befanden sich gegen den Gastgeber in einer Situation, aus der sie sich mit keiner Handlungsweise hätten befreien können. Lässt man nicht locker, tut es weh. Lässt man absichtlich und offensichtlich locker, tut es noch mehr weh. Selbst dem brasilianischen Fußball, unabhängig von allen Fan-Tränen, wäre alles andere als das Geschehene nicht dienlich gewesen. Dem Land fehlen gut ausgebildete Trainer, auch in der Nachwuchsförderung hinkt man hinterher. Brasilien ist auch deshalb gescheitert, weil es mit dem modernen Fußball nicht Schritt halten konnte. 10 Gegentreffer in den letzten beiden Spielen sind die besten Argumente um die Entscheidungsträger zu einschneidenden Änderungen im Sinne des brasilianischen Fußballs zu zwingen. Bei allen weltweit vergossenen Tränen, die über die Tränen der Brasilianer vergossen wurden.

Die größte Demütigung

Die Welt bewegt der Umstand, dass sich der Gastgeber schick gemacht, seine Stadien um Milliarden herausgeputzt, seine Bevölkerung bei Ausgaben in viel wichtigeren Bereichen vertröstet hat, mit dem Argument ihnen den Weltmeistertitel zu schenken. Und jetzt das.

Die ganze Welt hat Mitleid mit Brasilien. Wer auf Google „Mitleid mit Brasilien“ eingibt, findet über 270.000 Treffer. Dort steht dann: Robben hat Mitleid mit Brasilien. Spaniens-Regierungschef hat Mitleid mit Brasilien. Christoph Metzelder hat Mitleid mit Brasilien. Trainer haben Mitleid mit Brasilien. Boris Becker hat Mitleid mit Brasilien.

Mitleid

Dabei ist das wohl die größte Demütigung. Der Gastgeber ist angetreten um Siege zu säen, jetzt hat er Mitleid geerntet.