London - Anschuldigungen, Gerüchte, verschwundene Akten. Der Verdacht: Im britischen Parlament stand Kindesmissbrauch auf der Tagesordnung. Die Empörung ist groß, die Regierung ermittelt.

Skandal reiht sich an Skandal. Mit dem Missbrauch von Spesen für Zweithäuser und Ententeiche fing es 2009 an. Es folgten die Abhörskandale im Medienimperium von Rupert Murdoch. Die BBC geriet in den Wirbel der Missbrauch-Historie des Ex-Moderators Jimmy Savile, weitere ehemalige TV-Größen wurden verurteilt. Jetzt stehen die Politiker rund um den Big Ben im Rampenlicht der Aufarbeitung angeblicher Fälle des "historischen sexuellen Missbrauchs". Die Vorgänge liegen etwa drei Jahrzehnte zurück.

Was ist geschehen? Tatsache ist, dass die neue Welle der moralischen Vergangenheitsbewältigung in den öffentlichen Institutionen des Landes vor niemandem mehr haltmacht. Die Opfer sind mutiger geworden und brechen ihr Schweigen, die Massenmedien schlagen sich nach ihrer erzwungenen Selbstreinigung deutlicher auf die Seite der Underdogs. Die Polizei selbst hat mit Korruptionsvorwürfen zu kämpfen.

Die Ankläger bleiben unterdessen dieselben. Schon im Oktober 2012 hatte der Labour-Abgeordnete Tom Watson im Parlament von der Existenz eines "mächtigen Pädophilen-Netzwerks" im Parlament und am Regierungssitz Downing Street gesprochen. Watson, ebenfalls maßgeblich an der Aufdeckung der Abhöraffäre beteiligt, erreichte eine Untersuchung des Innenministeriums zu den Anschuldigungen über Kindesmissbrauch durch Parlamentarier in den 1970er und 1980er-Jahren.

Ein 2013 vorgelegter Bericht des Ministeriums kam zu dem Schluss, dass alle relevanten Akten an die Polizei weitergeleitet wurden. Weitere Akten seien "im Rahmen ministerieller Richtlinien" im Reißwolf gelandet. Auch ein hoch explosives Dossier, in dem ein inzwischen verstorbener Tory-Parlamentarier prominente Verdächtige namentlich genannt haben soll, ist nicht mehr auffindbar.

Der Abgeordnete Geoffrey Dickens hatte die Akte 1983 an den damaligen Innenminister Leon Brittan übergeben. Der Inhalt würde "mächtige und berühmte" Kinderschänder entlarven, soll Dickens vor seinem Tod 1995 gesagt haben.

Nach unbestätigten Medienberichten wird inzwischen gegen mehr als zehn ehemalige und noch amtierende Mitglieder des Unterhauses und des House of Lords (Oberhaus) ermittelt. Premierminister David Cameron hat eine Überprüfung der Vorgänge durch einen unabhängigen Rechtsexperten angeordnet.

Schon bald dürfte die Öffentlichkeit mehr darüber erfahren, was in den Hinterzimmern und Pubs im Regierungsviertel von Westminster in Sachen Missbrauch wirklich geschah. Die Informationen kommen nur stückchenweise ans Licht, doch die Zeichen stehen auf Sturm. Erst am Samstag informierte das Innenministerium den Labour-Abgeordneten Keith Vaz darüber, dass insgesamt 114 relevante Akten entweder "vernichtet, verloren oder unauffindbar" sind.

Vaz zeigte sich schockiert darüber, dass so viel Beweismaterial verloren gegangen sein soll. "Das ist ein Aktenverlust von industriellem Ausmaß", sagte der Labour-Politiker dazu am Sonntag im BBC-Fernsehen. Als Vorsitzender des Innenausschusses des Parlaments liegt die Aufklärung des Skandals maßgeblich auch in seiner Hand. (APA, 6.7.2014)