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Am 20. September wurde in Wien eine Frau vor die U-Bahn gestoßen, am Mittwoch erhielt der Täter 15 Jahre Haft.

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Fall eins: Eine Frau wartet in Wien auf die U-Bahn. Ein Mann, betrunken, nähert sich ihr. Die beiden kennen einander nicht, wechseln kein Wort. Der Blick der Frau fällt auf die elektronische Intervallanzeige: Der Zug soll in einer Minute kommen. Also eigentlich sofort ...

Da verspürt sie plötzlich einen brutalen Stoß. Der betrunkene Mann ist völlig unvermittelt auf die Frau, eine lange in Österreich eingebürgerte Chinesin, losgegangen. Sie stürzt nach vorne, wird Richtung Gleise katapultiert - vier Meter weit, wird von Gutachtern später rekonstruiert.

Rettung im letzten Augenblick

Sie landet mit voller Wucht auf den Schienen, verliert dabei zwei Zähne und erleidet Prellungen, rappelt sich dennoch auf. Ein anderer Wartender hilft ihr, zerrt sie zurück auf den Bahnsteig - im allerletzten Moment: Sekunden später fährt die U-Bahn in die Station ein.

So geschehen am 20. September 2013, so verhandelt im Wiener Straflandesgericht am Mittwoch. Anklage: versuchter Mord. Urteil für den Stoßenden, nicht rechtskräftig: 15 Jahre Haft und Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher.

"Zu laut" telefoniert

Fall zwei: Eine Frau aus Kenia, aber schon mehrere Jahre in Wien, wartet zusammen mit einer Freundin aus Ghana auf die U-Bahn. Die Freundin telefoniert: zu laut, meinen ein Mann und dessen Lebensgefährtin, die unweit der beiden Frauen ebenfalls am Bahnsteig stehen.

Die Lebensgefährtin tut ihren Ärger kund: Was der Telefonierenden denn einfalle, derart laut zu sprechen. Das will diese nicht auf sich sitzen lassen: Ein Streit bricht sich die Bahn, in den auch die Kenianerin einstimmt.

Rassistisch beschimpft

Der Streit driftet ins Rassistische: Die Lebensgefährtin beschimpft die beiden Frauen als "Negerinnen". Da geht der Mann auf einmal auf die Kenianerin los, versetzt ihr einen Stoß. Sie stürzt auf die Gleise, fällt hart und bricht sich ein Fersenbein.

Der Mann dreht sich um und rennt weg, andere Wartende hindern seine Lebensgefährtin, es ihm gleichzutun. Jemand drückt den Notknopf am Perron. Das stoppt den U-Bahn-Zug, der laut elektronischer Anzeigetafel in drei Minuten kommen sollte. Die aufs Gleis Gestoßene kann rechtzeitig auf den Bahnsteig zurückklettern.

Mildes Urteil

So geschehen im Jänner 2013, so verhandelt mehrere Monate später am Wiener Straflandesgericht. Ursprünglich war gegen den Stoßenden wegen Mordversuchs ermittelt worden war, dann reduzierte die Staatsanwaltschaft die Anklage auf absichtliche schwere Körperverletzung. Urteil für den Mann: ein Jahr bedingt, inzwischen rechtskräftig. Die Lebensgefährtin kommt straflos davon.

Was Fall eins und Fall zwei eint: der Umstand, dass jeweils eine Frau durch einen körperlichen Angriff in Lebensgefahr und Todesangst versetzt wurde. Was die Fälle unterscheidet: die Lebensgefahr des Opfers war in Fall zwei vielleicht nicht ganz so akut - und es gab eine "Vorgeschichte", den Streit, während die Attacke in Fall eins aus dem Nichts heraus erfolgte.

Tatrelevant

Trotzdem: 15 Jahre unbedingte Haft hier, ein Jahr bedingt da für im Grunde vergleichbare Taten. Wo ist da die Relation, wie erklärt sich diese extreme Diskrepanz? Sowie: Welche Rolle spielte bei der vergleichsweisen großen Milde in Fall zwei der Umstand, das der lautstarke Rassismus der Lebensgefährtin in der Anklage keine Erwähnung fand? Er also nicht als erschwerend gewertet wurde, obwohl er durchaus auch als tatrelevant gelten kann.

Die Antirassismus-Organisation ZARA hat den Telefonstreit-Fall in ihrem Jahresbericht 2013 zu Recht als Beispiel für Justitias Blindheit gegenüber Rassismus herausgestrichen. Der Vergleich mit der harten Anklage und martialischen Strafe im nicht unähnlichen Fall eins stärkt diesen Eindruck. Außerdem jenen, dass manche heimische Anklagebehörde Fälle, in denen laut telefonierende Afrikanerinnen eine Rolle spielen, vielleicht nicht ganz ernst nimmt: ein rechtsstaatliches Trauerspiel. (Irene Brickner, derStandard.at, 3.7.2014)