Historiker und Bosnien-Experte Marko Attila Hoare

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Das alte Rathaus, die Vijecnica, wurde in der Okkupationszeit gebaut

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STANDARD: Wann haben die Spannungen zwischen Österreich-Ungarn und Serbien begonnen? War das bereits 1878 bei der Okkupation von Bosnien-Herzegowina?

Hoare: Die Okkupation hat zu einem territorialen Streit geführt, aber das heißt nicht, dass das zum Krieg führen musste. Das geht tiefer. Serbien entstand wieder als ein Staat in Abschnitten während der 1810er, 1820er und 1830er im Schatten von Österreich-Ungarn. Serben aus Österreich-Ungarn kamen nach Serbien und halfen das Land aufzubauen. Sie sahen das als freundliches Regime, nicht als Bedrohung. In dem Memorandum von Ilija Garasanin (serbischer Staatsmann, der 1844 den Text verfasste, Anm.) ging es darum, nach Bosnien-Herzegowina zu expandieren. Aber nach der Okkupation hat man alternativ überlegt, in den Süden zu expandieren. Unter König Aleksandar Obrenovic wurde Serbien unabhängiger, war aber nicht feindlich gesonnen. Das änderte sich erst 1903, als der König und die Königin ermordet wurden. Und auch dann konnte man noch nicht wissen, dass es so ausgehen würde, denn einige der politischen Figuren, die in den Staatsstreich 1903 involviert waren, waren traditionell proösterreichisch. Dann wurden allerdings die Radikale Partei und Zirkel rund um die Militärs, die hinter dem Staatsstreich standen, stärker. Die Rivalitäten und das Zusammenspiel dieser zwei Elemente schoben Serbien Richtung Krieg. Auch wenn die Radikale Partei gar keinen Krieg mit Österreich-Ungarn wollte, konnte sie dennoch das Attentat nicht stoppen.

STANDARD: Welche Auswirkungen hatte die Annexion 1908 auf das Verhältnis?

Hoare: Die Annexion war ein großer Beschleuniger, als es in Serbien danach mächtige Elemente gab, die von einer passiven antiösterreichischen zu einer aktiven antiösterreichischen Position wechselten.

STANDARD: Wo sehen Sie das größte Versäumnis der Diplomatie?

Hoare: In Serbien gab es den Glauben, dass man möglicherweise gegen Österreich-Ungarn kämpfen muss, um die nationalen Ziele zu erreichen, weil eine gewisse Anzahl an Serben dort lebte. Österreich-Ungarn hat nicht genügend auf die öffentliche Meinung in Serbien geachtet. Man sah das mehr als eine Frage der Drangsalierung des Reichs. Und es ging nicht darum, wie man die Serben dazu bringen könnte, wohlwollender zu werden.

STANDARD: Hat man die muslimischen Eliten im Gegensatz zu den Serben bevorzugt?

Hoare: Ja, Österreich-Ungarn hat bis zu einem gewissen Ausmaß die muslimischen Landbesitzer und die Kroaten bevorzugt, aber es war nicht antiserbisch. Die Attentäter standen am Rand. Der durchschnittliche Serbe war entsetzt über das Attentat. Der Politiker Milan Srskic etwa, der aufsteigende Stern der bosnisch-serbischen konservativen Politik, soll auf die Nachricht der Ermordung seinen Säbel gezogen und bekanntgegeben haben, dass es notwendig sei, Ferdinand und Sophia zu rächen, und er bereit sei, gegen Serbien zu kämpfen.

STANDARD: Wann wurden die antiserbischen Ressentiments dann größer?

Hoare: Nach dem Attentat gab es eine schwere Unterdrückung der serbischen Bevölkerung seitens der habsburgischen Behörden. In der serbischen Historiografie wird in dem Zusammenhang von einem Genozid gegen die Serben gesprochen. Das ist eine komplette Übertreibung. Die Habsburger hatten ja serbische Truppen und hochrangige serbische Armeeoffiziere.

STANDARD: Was waren die größten Fehler seitens Österreich-Ungarns?

Hoare: Das Attentat war das Werk der Schwarzen Hand, und es war nicht der Wunsch der serbischen Regierung, einen Krieg zu führen. Als Österreich-Ungarn das Ultimatum an Serbien gestellt und die serbische Regierung fast alles davon akzeptiert hat, da gab es die Chance, hier aufzuhören und mit der serbischen Regierung zusammenzuarbeiten und zu versuchen, die Schwarze Hand zu isolieren. (Adelheid Wölfl, DER STANDARD, 28.6.2014)