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Vor wenigen Tagen holte man Wandertaube Martha (rechts) aus den Depots des National Museum of National History in Washington, um sie zu ihrem hundertsten Todestag auszustellen.

Foto: AP Photo/Susan Walsh

Taipeh/Wien - Benannt war sie nach Martha Washington, der ersten First Lady der USA. Und nachdem sie am 1. September 1914 um 12.45 Uhr im Zoo von Cincinnati im Alter von 29 Jahren ihr Leben ausgehaucht hatte, berichteten Zeitungen überall im Land von ihrem Ableben. Denn mit Martha war die letzte Wandertaube des Planeten gestorben. In einem riesigen Eiswürfel wurde sie an die Smithsonian Institution nach Washington verbracht, um dort konserviert zu werden.

Hundert Jahre zuvor dürften noch rund drei bis fünf Milliarden Artgenossen von Martha Nordamerika bevölkert haben. Die Vögel, die sich vor allem von Bucheckern, Eicheln und Kastanien ernährten, konnten Schwärme mit hunderten Millionen von Individuen bilden. Der Ornithologe und Vogelmaler John James Audubon berichtete 1813 von einer durchziehenden Wandertaubenwolke, die tagelang den Himmel über dem Bundesstaat Kentucky verdunkelte.

Ausrottung allein durch Jagd?

Im Jahr 1900 wurde die letzte Wandertaube in freier Wildbahn gefangen. Wie aber konnte es sein, dass dieser zumindest in Nordamerika am häufigsten vorkommende Vogel in wenigen Jahrzehnten vom Erdboden und aus den Lüften verschwand?

In der wissenschaftlichen und ökologischen Literatur wurde Martha zum Symbol für das vom Menschen verursachte Artensterben: Zuerst Siedler und dann professionelle Taubenjäger, die bis zu drei Millionen Exemplare pro Jahr erlegten, haben die schmackhaften Vögel massenweise gejagt und hätten so ihr Aussterben herbeigeführt. Doch ist das die ganze Wahrheit? Trugen noch andere Faktoren zum rapiden Exitus der Wandertauben bei?

Forscher um Shou-Hsien Li von der National Taiwan Normal University in Taipeh suchten in der DNA von drei in Museen aufbewahrten Präparaten nach Antworten. Die auf Vögel spezialisierten Genetiker analysierten dabei nicht nur das Erbgut aus den Zehenballen der ausgestopften Tiere, sondern verglichen sie auch mit Informationen aus DNA-Proben der Felsentaube. Das wiederum ist die Wildform der Haustaube - und die erfolgreichste Taubenart überhaupt.

Li und Kollegen fanden heraus, dass die Erbsubstanz der drei Wandertauben eine geringe genetische Vielfalt aufweist. Diese geringe Diversität entspreche zwar der anderer regional verbreiteter Vögel, doch sie scheint viel zu klein für die einst gewaltige Anzahl der Wandertauben, schreiben die Forscher im Fachblatt "Proceedings of the National Academy of Sciences" (PNAS).

Stark schwankende Zahlen

Von den Forschern erstellte Computermodelle der Populationsdynamik von Marthas Artgenossen legen zudem nahe, dass die Zahl der Wandertauben über die Jahrtausende extrem stark fluktuierte. Das wiederum hing mit dem schwankenden Nahrungsangebot zusammen.

Mit der hohen Zahl eng zusammenlebender und gemeinsam fliegender Tiere dürfte die Art wegen ihrer geringen genetischen Diversität besonders anfällig für Seuchen gewesen sein. Vor der Ausbreitung der Europäer in Nordamerika freilich hätten sich die Wandertauben von einem Kollaps immer wieder gut erholen können, vermuten Li und seine Kollegen.

Die Kombination von gnadenloser Jagd durch den Menschen und den natürlichen Populationsschwankungen habe die Wandertaube dann aber nicht verkraftet. Einmal unter ein bestimmtes Minimum an Individuen gedrückt, war das Schicksal von Martha und Co endgültig besiegelt. (Klaus Taschwer, DER STANDARD, 25.6.2014)