Christine Brombach: Der Grundstein für unsere Essgewohnheiten wird früh in der Kindheit gelegt.

Foto: Archiv

STANDARD: "Demografische Revolution, Reifeprüfung auf dem Teller" heißt ein Symposium am 26. 6., bei dem Sie über Ernährungsbiografien reden. Was verstehen Sie darunter?

Brombach: Die meisten Menschen wählen nicht, wir denken wenig darüber nach, was wir essen, sondern folgen Gewohnheiten. Der Grundstein dafür wird in den ersten vier Jahren der Kindheit gelegt. Wie, wann, was und wo: Diese Faktoren bestimmen die Ernährung für den Rest des Lebens.

STANDARD: Du bist, was du isst: Das stimmt also?

Brombach: Du isst, was dich geprägt hat. Wir hier leben zum Beispiel in einer Brotkultur, nicht in einer Breikultur. Wir essen weniger, was uns schmeckt, als vielmehr das, was die anderen essen. Niemand erfindet seinen Essalltag jeden Tag neu, es sind Routinen, über die man nicht nachdenkt. Im Laufe des Lebens essen wir durchschnittlich 100.000 Mahlzeiten.

STANDARD: Doch auch Babys haben schon gewisse Abneigungen.

Brombach: Kinder haben eine Neophobie, sie mögen Vertrautes, lernen nicht gerne Neues kennen. Süß wird präferiert, das ist genetisch so angelegt, Bitteres ist in der Natur ja auch oft giftig.

STANDARD: Wegen der Bitterstoffe mögen Kinder gesundes Gemüse also oft nicht gern?

Brombach: Unter anderem, man muss lernen, Geschmäcker zu mögen. Es gibt eine Studie, in der festgestellt wurde, dass man Kinder bis zu 16-mal eine neue Speise anbieten muss, bis sie sie mögen. Das erfordert viel Geduld von den Eltern. Resultat dieser Bemühungen ist eine Geschmacksheimat. Sie ist anatomisch verankert.

STANDARD: Inwiefern?

Brombach: Essen ist nicht nur Nahrungsaufnahme, sondern eine Symphonie für die Sinne. Riechen, Sehen, Hören: Diese Eindrücke sind im limbischen System unseres Gehirns verankert und der Grund dafür, warum auch viele Erinnerungen mit Essen verbunden sind. Ein gemeinsamer Geschmack verbindet auch Familien über die Generationen, das haben Studien eindeutig ergeben.

STANDARD: Wie wirkt sich das im Alter aus?

Brombach: Die Generation vor uns ist zwar teilweise noch vom Mangel des Kriegs geprägt, grundsätzlich mögen alte Menschen aber die Speisen ihrer Kindheit.

STANDARD: Wie wird sich Geschmack weiterentwickeln?

Brombach: Schon jetzt zeichnet sich eine Tendenz ab: weniger Fleisch, mehr Vollkorn. Auch exotische Speisen, Essen in Restaurants wird viel üblicher. Die Ernährungsweise jedes Einzelnen beeinflusst schließlich auch unsere Gene. Hunger ist für die wenigsten in unseren Breiten ein Motiv fürs Essen. (Karin Pollack, DER STANDARD, 24.6.2014)