"Das Kind, das ich war" heißt Wawerzineks Film von 1994, der so wie sein Erfolgsroman "Rabenliebe" seine Kindheit als Heimkind beschreibt.

Foto: Peter Wawerzinek

Der Schriftsteller Peter Wawerzinek, in seinem sechzigsten Jahr im Innenhof seines Wohnhauses am Prenzlauer Berg, in die er erst vor ein paar Wochen wieder zurückeingezogen ist: "Fotografiert werden mag ich nicht so gerne. Aber das hat einen Grund. Auch im Heim wurden wir immer fotografiert, bevor wir wieder vermittelt wurden."

Foto: Der Standard

Am Ende", erzählt Peter Wawerzinek, "will ich drei Bücher mit Vögeln auf dem Cover haben", Rabe und Specht hat er bereits abgehakt, "jetzt fehlt nur noch ein Tölpel", sagt er, "so ein Vogel, der sich lächerlich macht." Der Mann mit den schütteren Haaren sitzt an seinem Küchentisch, der mit Zettelwerk, Zeitungen, CDs und Büchern vollgeräumten ist, und stiert in das Chaos seiner Wohnung, in die er schon vor Wochen eingezogen ist. Wawerzinek sieht zum Umfallen müde aus. Trotzdem lacht sein zerknittertes Gesicht, wenn er sich vorstellt, welcher komische Vogel als Nächstes den Buchumschlag seines dritten Romans, der noch nicht einmal geschrieben ist, aber hoffentlich auch bald im Berliner Galiani-Verlag erscheinen wird, zieren wird.

Der heute 59-jährige Schriftsteller, der mit Auszügen aus seinem Roman Rabenliebe, der von seiner Kindheit als ostdeutsches Heimkind handelt, vor ziemlich genau vier Jahren gleich zweifach den Bachmann-Preis gewonnen hat, einmal den Hauptpreis und dann noch den Publikumspreis, hat zuvor starken Kaffee aufgebrüht, den er selbst allerdings nicht trinkt. Er trinkt Gemüsesaft, direkt aus dem Tetrapack. Er sei eher der Typ, sagt er mehr zu sich selbst als zum anwesenden Gast, der früh aufwache und dann gerne eine Runde spazieren gehe: "Heute war die große Ausnahme", stellt er trocken fest und nimmt wieder einen Schluck, in seinem Gesicht immer noch die Abdrücke seiner Schlafmatratze.

"Ich bin ja immer gefährdet"

Wenn einer wie Peter Wawerzinek, der im heurigen Frühjahr wiederum einen teils autobiografischen Roman über seine Trinkerjahre vorgelegt hat, zum verabredeten Interviewtermin in seiner neuen Wohnung, wenn auch erst nach dreimaligem Klingeln, die Haustüre öffnet, dann ist das gewissermaßen ein Glücksfall. Denn dann sind wir hier, in der Knaackstraße am Prenzlauer Berg, gleich einmal mitten im Thema. "Ich bin ja immer gefährdet. Gestern auch wieder", sagt Wawerzinek mit einer für nur drei Stunden Schlaf verblüffenden Klarheit. Und sprudelt munter weiter: Man bleibe ja immer Alkoholiker, und das mit seinem Buch Schluckspecht einmal zu sagen und das zuzugeben, das war ihm wichtig.

Er wollte nicht nur ein Tabuthema ansprechen, sondern Alkohol zu Literatur machen. Der Roman selbst ist wie ein Rausch geworden, eine stellenweise atemlose Prosa über eine trunkene Adoleszenz, schwer voll von Anspielungen, Zitaten und Verdrehungen, an denen der Autor trotz des fatalen Themas ganz offensichtlich seine Freude hatte.

Den autobiografisch gefärbten Roman aber allzu autobiografisch zu lesen ist trotzdem verkehrt. Während das Buch seinen teilfiktiven Helden von der Trinkerheilanstalt ins Dichterhaus bringt, war es in Peter Wawerzineks echtem Leben genau umgekehrt: Ein Literaturstipendium in Wewelsfleth brachte den Schriftsteller von seiner Schreibstube in die Alkoholtherapie. "Ich habe von meinem Fenster immer auf das Trinkerheim geschaut", erzählt Wawerzinek und schaut dabei in seinen Berliner Innenhof. Irgendwann ist er dann rübergegangen, erzählt er, weil er vom Saufen wegwollte. "Ich weiß, was du willst, aber das wird ein paar Jahre dauern", hat ihm der Anstaltsleiter und spätere Freund Gerd Gedig, im Schluckspecht nur "der Doktor" genannt, auf den Kopf zugesagt. Und der behielt recht: Wawerzinek blieb fünf Jahre, von 2003 bis 2008.

Der Therapieansatz des Eulenhofs unterscheidet sich bis heute vom ansonsten üblichen Komplettentzug. Heißt: kontrolliert trinken lernen. "Das habe ich vom Doktor beigebracht bekommen", sagt Wawerzinek und streicht sich mit beiden Händen über seinen hitzig roten Kopf. Der erste Schritt sei der zu sagen: Ich bin so und muss damit leben. Es gibt da so einen Film, erzählt der in Rostock geborene Berliner Autor dann, Coffee and Cigarettes von Jim Jarmusch, in dem Tom Waits und Iggy Pop übers Rauchen reden. Ich habe jetzt sechs Wochen nicht geraucht, sagt der eine, ich könnte jetzt zwei Zigaretten rauchen und wäre immer noch Nichtraucher. Das geht ja nicht, sagt der andere. Doch, das geht, sagt Iggy Pop. "Genau da bin ich jetzt", sagt Peter Wawerzinek und blättert in seinem Terminkalender, erzählt von einer Bandprobe gestern und dass er demnächst eine CD aufnehmen will mit rabenschwarzen Liebesliedern natürlich und nennt es selbst "eine kühne Theorie", wenn er sich gestern betrinkt und morgen trotzdem weiter auf einem guten Weg bleiben will.

Genau wie er sich 2005 auf die Alkoholtherapie eingelassen hat, "um damit ein Buchthema zu haben", sitzt er jetzt vielleicht aus ähnlichen Motiven in dieser angenehm kühlen Wohnung mit schön breiten Dielen mitten am Prenzlauer Berg, die immer noch vollgeräumt ist mit Umzugskisten.

Und weil Peter Wawerzinek einer ist, der ständig und nicht nur in seinen Büchern mit Sprache spielt, nennt er sich jetzt, und das klingt fast ein bisschen feige, einen "Rückzieher". Und der ist er auch. Denn in dieser Wohnung, in die er gerade zurückeingezogen ist, hat er in den 90er-Jahren schon einmal gelebt, damals mit Frau und Kind: "Ich bin jetzt hier in der Wohnung, wo wir immer waren." Und dieser Rückzug in die eigene Biografie, das ist wieder so ein Thema, auf das er sich jetzt einlässt.

"Wenn ich jetzt auf trocken gemacht hätte", sagt er dann sehr ernst, "hätte mich der Tod der Mutter meiner Tochter zu sehr reingerissen." Hat keiner gewusst, sagt er. Und obwohl es auch im Schluckspecht diese Passagen gibt, wo der Protagonist sein Leben nicht mehr will, ist Wawerzinek immer noch verwundert, dass so etwas jetzt so nahekommt in seine Biografie, und meint damit den Selbstmord seiner Ex, die hier gelebt hat all die Jahre, in denen er schon längst wieder ausgezogen war, und die sich vergangenen August das Leben genommen hat.

"Wir sind ja im Leben mehr als eine Person", schreibt Wawerzinek in seinem Roman, "wir entscheiden uns nicht für diese oder jene Variante, wir sind sie alle."

Peter Wawerzinek war und ist in seinem Leben viele Varianten: ein Vaterloser, von der Mutter in Ostdeutschland zurückgelassen, ein Bruder von insgesamt neun Geschwistern (die Mutter bekommt im Westen noch einmal acht Kinder, nachdem sie Peter und seine Schwester verlassen hatte), dann Heim- und Adoptivkind, später kurz Textilzeichner, Totengräber und Zugschaffner, Wahlberliner, irgendwann selbst Vater von zunächst drei Kindern, die zu DDR-Zeiten noch nach dem Alleinerziehungsrecht der Mutter zugesprochen werden, später noch einmal Vater einer Tochter, mit der er kurz als Puppenspieler durch Usedom und Rügen fährt, die meiste Zeit über heilloser Säufer, in den Neunzigerjahren gefeiertes Enfant terrible der Berliner Literaturszene, dann lange ein Gescheiterter, dem nicht mehr zu helfen ist. Nach zehnjähriger Literaturabstinenz zuerst Seeschreiber am Wolfgangsee und dann, 2010, gefeierter Bachmann-Preisträger in Klagenfurt. Das alles nur kurz gestreift, um in diesem turbulenten Leben nicht den Überblick zu verlieren.

"Das mit dem Bachmann-Preis macht mir keiner so schnell nach", sagt Preisträger Wawerzinek heute, vier Jahre nachdem er sich für das Klagenfurter Wettlesen in die Literaturszene zurückgeschrieben hat. Er sagt das noch immer so stolz wie damals, egal, ob dieser Preis nun wichtig ist oder nicht. Tatsache sei, so der Schriftsteller, das musst du machen, sonst wirst du nicht wahrgenommen.

"Die Bachmann", sagt der Wawerzinek, "die hat ja das dreißigste Jahr als so ein Schlüsseljahr festgelegt." Er selbst wird im Herbst sechzig. Was er vor dreißig Jahren gemacht hat? "Bachmann gelesen", sagt Wawerzinek, das sei zwar eine Frau, habe er damals gedacht, und lacht, was soll die ihm schon groß erzählen, aber okay, wenn die das alles so sieht. Mit dreißig hatte er selbst schon ein Kind, die Zwillinge kamen dann zwei Jahre später. Getrunken hat er mit Sicherheit. Mit dreißig, fällt ihm jetzt ein, hatte er sich die Achillessehne gerissen und lag mit Gips im Krankenhaus in Berlin und schrieb dort seine ersten Gedichte, die auch gleich veröffentlicht wurden. "Aber", sagt Wawerzinek mit der ihm eigenen Selbstironie, "um die Gedichte ging es gar nicht, sondern nur darum, dass die im Krankenhaus geschrieben wurden."

"Ich schreibe dann einfach"

Heute entstehen seine Bücher immer im Winterhalbjahr. In diesen Monaten, erzählt er, bekommt er einen anderen Lebensrhythmus, isst Spiegelei mit Bratkartoffel, geht nicht mehr ans Telefon, macht kein Internet. "Ich schreibe dann einfach", sagt er, von früh morgens bis mittags, wird müde, schläft bis 16 Uhr, schreibt bis zum Abend, guckt einen Film, schläft wieder, schreibt weiter und legt sich erst um fünf Uhr zum Schlafen hin. So oder auch anders: "Das hält doch eine Partnerin kaum aus", sagt der Mann, der hier deswegen auch alleine lebt.

Das Telefon klingelt, und Wawerzinek läuft ein bisschen kopflos durch die Gegend, weiß nicht, wo das Festnetz liegt, findet auch sein Handy nicht: "Mensch", sagt er und verstellt seine Stimme, "hier sieht es doch fürchterlich aus, der braucht doch eine Frau, die das alles in Ordnung bringt." So denkt man vielleicht. "Meine liebe Freundin", sagt Peter dann, wenn er mit dem Telefonieren fertig ist, erzählt, dass sie heute eingeladen sind, Häppchen essen auf einem Sommerfest: "Ich sag immer, ich will da gar nicht hin, aber sie", und stellt seine Stimme wieder höher, "sie unterhält sich so gerne." Er aber redet, kommt gleich auf den Punkt, und das kommt manchmal nicht so gut an.

Wo waren wir noch einmal? Beim November, seinem Lieblingsmonat, daran mag er die Klarheit der Bäume, wenn sie blattlos und nackig sind: "Alles ist vorbei", sagt er, für ihn der richtige Moment zum Schreiben, "in den Frost rein bis zum anfangenden Erblühen." Dann soll ein Buch fertig sein. Das nächste Buch. "Ich freu mich immer, wenn ich im April wieder rauskomme, Menschen treffe und Publikum habe", sagt der Autor. Das Lesen, und er meint Vorlesen, ist dann wie eine Belohnung für die monatelange einsame Schreibarbeit.

"Liebe und Frauen sind ein Thema für sich", steht im letzten Buch zu lesen, und Wawerzinek hat es - bewusst, wie er sagt - weitgehend ausgespart, einmal abgesehen von der mütterlichen Figur der Tante Luci, einer Mischung aus echter Adoptivtante, die es gab und die am Alkohol zugrunde ging, und der lebensweisen Haushälterin des Dichterhauses in Wewelsfleth, Hannelore Kayn, der das Buch auch gewidmet ist. "Harold und Maude, der Junge mit der älteren Frau, das hat mich als Thema immer schon berührt", sagt Wawerzinek. Für seinen Roman bringt er sie zusammen, ihn, den öffentlichen Trinker, der auf den Tisch springt und Krawall schlägt, und sie, die heimliche Trinkerin, die sich gegen die Entdeckung ihrer Sucht wehrt: "Weil ich selbst das alles alleine durchgezogen habe, wollte ich in der Fiktion jemanden an meiner Seite haben."

Immer wieder sagt er: "Ich bin immer nur auf Gleichgesinnte aus." Liebe und Frauen also, und ob er sie nun mag oder nicht, ob er sie braucht oder anbetet, wie das mit dem Familienleben und den Kindern so geht, um das alles wird sich das nächste Buch drehen. Schreiben will er es unter dem Einfluss von Jazzmusik. Jetzt schon stapeln sich die CDs dafür auf seinem Tisch. Nach einem Buch über die Sehnsucht nach der Mutter und einem über die Sucht selbst jetzt also eines über die Sehnsucht nach der Liebe, der Abschluss seiner Autobiografie-Roman-Trilogie.

Dass einer wie er jetzt ausgerechnet auf den Prenzlauer Berg zurückzieht, ist schon komisch. Dorthin, wo seit mehr als einem Jahrzehnt hippe, junge Neoberliner die Geburtenrate pushen, Latte macchiato am Spielplatz trinken und beim Urban Gardening Gemüse für den überbehüteten Nachwuchs ziehen. Er sieht sie ständig, sagt er, die sogenannten guten Väter, die immer allen zeigen, wie toll sie sind: "Da sind die Kinder im Prinzip nur Mitarbeiter." Gnadenlos, aber wahr sind solche Wawerzinek-Sätze, die ihn immer schon zu einem streitbaren Zeitgenossen gemacht haben. Nie mochte er Eltern, die ihre Kinder in eine bestimmte Richtung haben wollen, und erzählt von seiner Jüngsten, "mit der ich eine Zeit lang eine richtige Vater-Tochter-Beziehung hatte" , die, als sie kleiner war, einen Streichelzoo für Weiße Haie einrichten wollte, weil sie den Spielberg-Film so ungerecht fand. Jetzt macht sie Landwirtschaft, hat mitgekriegt, dass Welthunger ein Thema ist. "Die ist eine richtige kleine Kommunistin geworden", sagt Peter stolz über seine Tochter, die zwar noch immer nicht, wie versprochen, ihre Umzugskisten abgeholt hat, dafür aber in Venezuela Dörfer aufbaut, in denen die Leute 15 Euro Miete zahlen und alles teilen.

Das Kind, das er war

Er selbst wird in Berlin bleiben, später vielleicht mit seiner Freundin "am Land landen", wie er das ausdrückt. Noch geht er gerne raus und betrachtet dieses eigenartige Volk um sich herum, ist älter und gelassener geworden und kann, wie er sagt, auch dem "Durchgangszimmer, das Berlin geworden ist" etwas abgewinnen.

Hier in Berlin ist auch sein Verlag, der sich, so wie er, vor ein paar Jahren neu erfunden hat. Den Galiani-Leuten hätte er eine Menge zu verdanken, die haben gesagt, dem helfen wir. "Und ich brauche ja immer wieder Hilfe", sagt Peter Wawerzinek, "ich bin nicht der Schriftsteller, der von sich selbst überzeugt ist. Ich schreibe toll, aber sehr viel falsch." Und Galiani sagt: Das kriegen wir hin.

"So", sagt Wawerzinek und muss dann bald los, "langsam hab ich mich nackig genug gemacht." Und da ist er wieder, dieser gleichzeitig müde wie offen-lebendige Gesichtsausdruck an ihm. Kurz vorher, beim Durchstöbern seiner Festplatte, hört er noch schnell rein in Lieder, die er im Herbst auf einer CD rausbringen will, zeigt bereits gedrehtes Material zu einer Dokumentation über seine ehemalige Heimerzieherin und zwei seiner Schwestern, die er endlich fertigstellen will.

Am Ende schaut er selbst ganz gebannt Das Kind, das ich war, einen Film von 1994, den er gemeinsam mit einem Kumpel gedreht hatte. Peter Wawerzinek ist jetzt mitten in seiner Küche wieder auf der Reise ins Land seiner Kindheit, und der heute Sechzigjährige schaut sich auf seinem Laptop selbst zu, wie er vor mehr als zwanzig Jahren am Ostsee-Ufer, dort, wo er die Jahre als Heimkind verbrachte, seine Arme ausbreitet und auf die Kamera und sein Publikum zufliegt: "Ich träume", ruft der jüngere Peter, "die gleichen blödsinnigen Träume, die jeder träumt, dass du fliegen kannst und rüber übers Wasser kommst. Und du willst dann landen, hast aber nur fliegen gelernt. Das sind dann die Angstträume, dass ich mit diesen Möwenfüßen, die ich habe, nicht landen kann." Rabe, Specht, Tölpel, Möwe - Vögel waren also immer schon sein Thema.

Man versteht jetzt, warum er irgendwann aufs Land will, raus aus Berlin, um zu landen. Später vielleicht, wenn alles erzählt ist.

Aber jetzt noch nicht. (Mia Eidlhuber, Album, DER STANDARD, 21./22.6.2014)