Erich Lessing bezeichnet sich selbst als "areligiös"...

Regine Hendrich

geht aber zu Feiertagen in den Tempel. Das gehöre sich so, sagt Lessing.

Regine Hendrich

Dass Künstler Ohrfeigen an Fotografen austeilen, sei manchmal legitim: "Wenn ich voller Konzentration, mit halbgeschlossenen Augen zur Bühne gehe, und einer stellt sich vor mich hin und blitzt mich an: Dann reib ich ihm auch eine."

Regine Hendrich

In Österreich fehlt Lassing der Widerspruch der Jugend. Hoffnung macht ihm aber Außenminister Sebastian Kurz, der Eigenschaften habe, die anderen fehlen.

Regine Hendrich

STANDARD: Geht Ihre Galerie so schlecht, wie Sie erwartet haben?

Lessing: Ja. Es ist reiner Luxus, meine Bilder hier zu zeigen. Aber so lange wir es uns ungefähr leisten können, werden wir die Galerie behalten. Fotografieren und Bilder-Verkaufen: Das geht heute an die Luxusgrenze.

STANDARD: Ich möchte mit Ihnen über Festhalten, Vergeben und die Mächtigen reden. Sie haben 2002 das Buch „Vom Festhalten der Zeit“ gemacht. Gibt es Zeiten, die Sie gern festgehalten hätten?

Lessing: 1945 bis 1975 war wahrscheinlich die interessanteste Zeit unserer Generation. Europa wurde erfunden, gegründet, gefestigt, die Welt, die Soziologie Europas und Amerikas haben sich verändert. Faszinierend.

STANDARD: Als besonders schön schildern Sie die Zeit, die Sie ab 1939 in Haifa verbrachten, als Sie begannen zu fotografieren und Taxi fuhren.

Lessing: Eine herrliche Zeit. Aber wissen Sie: Ich hatte jede Zeit sehr gern. Weil sie immer erfüllt war. Es geht auch jetzt spannend weiter, die langweilige Zeit ist schon wieder vorbei.

STANDARD: Wann war’s langweilig?

Lessing: Schia und Sunna waren etwas müde geworden, haben jetzt wieder Kraft gewonnen, und es bildet sich eine neue Allianz. Es beginnt schon wieder, aufregend zu werden in der Welt.

STANDARD: Sie haben damals, als Taxler in Haifa, auch Gerhard Bronner gefahren; seinen Sohn, den Standard-Herausgeber kennen Sie am längsten: Sie haben das Baby Oscar Bronner und seine Mutter von der Geburtsklinik abgeholt.

Lessing: Stimmt, so klein ist die Welt manchmal.

STANDARD: Sie flüchteten mit 16 allein nach Palästina, Mutter und Großmutter wurden im KZ ermordet. Mit 24 kamen Sie wieder nach Österreich. Im Umgang mit der Vergangenheit sind Sie sehr großzügig. Und Menschen, die ihr Leben lang unter der Vergangenheit leiden, tun Ihnen leid, sagen Sie.

Lessing: Ja. Ich glaube, man sollte versuchen, sein Leben in ständigem Gedenken an die zu führen, die nicht mehr da sind und die ermordet wurden – aber doch sein eigenes Leben aufbauen. Wenn man ständig in der Vergangenheit lebt, lebt man nicht.

STANDARD: Haben Sie den Tätern und Mittätern hier vergeben?

Lessing: Nein, sicher nicht. Vergeben ist das falsche Wort. Man muss anerkennen, dass diese Leute da sind; man muss auf derselben Erde leben mit ihnen, aber man muss nicht mit ihnen leben. Das sehen wir ja heute wieder, da die Rechte in ganz Europa erstarkt. Ich muss aber mit Herrn Strache nicht leben, ich kann in Österreich mit Menschen meiner politischen Überzeugung leben, mit meiner Lebensart und meiner Vorstellung über die Gesellschaft.

STANDARD: Sie sind versöhnlich?

Lessing: Die Unversöhnlichen gehen am Leben, an der Wahrheit, vorbei. Ich erkenne die Realität an.

STANDARD: Waren Sie denn nie zornig?

Lessing: Ich bin immer zornig. Mein Zorn wird immer größer. Über die Dummheit unter den Menschen und die Verdrängungen. Lassen Sie mich es an einem Beispiel erklären: Mein Lieblingsschüler, Standard-Fotograf Matthias Cremer, hat gerade zwei Fotopreise gewonnen, den Gesamtpreis mit einem Bild von Michael Spindelegger, einen Kategoriepreis mit einem Bild von Ernst Strasser auf der Anklagebank. Das ist genau verkehrt. Von der österreichischen Gewichtigkeit her ist das Strasser-Foto sehr, sehr wichtig; das von Spindelegger ist sehr schön, sarkastisch, humoristisch, nett – aber ein bissl banal. Nun, das ist typisch österreichisch: Man zieht das Banale dem Realen, dem Wichtigen immer vor.

STANDARD: Warum ist das Foto von Strasser wichtiger?

Lessing: Das muss jeder für sich entscheiden. Ich finde, es ist ein wichtiges Bild vom Umgehen mit der Geschichte, mit sich selber, mit der Frage, wie wir das Leben der Gesellschaft, der Société, aufnehmen.

STANDARD: Sie haben Adenauer, De Gaulle, Chrustschow, Figl, Kreisky als Fotograf begleitet; wer würde Sie heute interessieren?

Lessing: Hätte ich die Muskelkraft, würde ich gern einen Tag in Brüssel verbringen. Dort, wo es wirklich wichtig ist. Wissen Sie, es gibt so viele Menschen, die ich ganz gern begleitet hätte, von denen ich gern gewusst und gesehen hätte, wie sie agieren, was sie wirklich gedacht haben. Denn ich habe zwar ein großes Konvolut an Bildern, aber nun stellt sich doch heraus, dass ich sehr wenig weiß. Ich arbeite gerade an einem Buch  über 1948 bis 1965 und möchte ein visuelles Vorwort machen, mit vier Bildern, die für mich diese Zeit inkarnieren: Lehars Totenmaske: für das Lehar’sche Österreich, das zu Ende ist. Qualtinger: Für Österreich, das versucht, mit seiner Vergangenheit umzugehen. Das Parlament: für ein normales Leben. Das Foto vom Staatsvertrag: Um den kommt man nicht herum. Der nächsten Generation wird man gar nicht mehr erklären können, wie wichtig der Staatsvertrag damals war und wie wichtig die Persönlichkeiten, die daran beteiligt waren und auch die, die dagegen  waren. Heute sind das nur noch Namen.

STANDARD: Welche Bilder würden Sie als Symbol für die heutige Zeit nehmen?

Lessing: Josef Ostermayer – wegen der Ortstafeln:  sehr wichtig. Und HC Strache. Und ein Bild von Brüssel.

STANDARD: Sie haben gesagt, Sie wüssten wenig. Über Konrad Adenauer etwa wissen Sie doch sehr viel. Sie haben ihn lang begleitet; im Hotel Crillon in Paris haben Sie in seinem Zimmer nachgeschaut, ob er in Pyjama oder Nachthemd schläft, weil Sie eine Wette laufen hatten.

Lessing: Ich glaube, er schlief im Pyjama. Ihn habe ich von allen Politikern am nächsten begleitet und am besten gekannt – und doch: Ich weiß nichts von ihm.

STANDARD: War es Ihnen eigentlich Genugtuung, dass gerade Sie, der Vertriebene, das bekannte Staatsvertrag-Foto gemacht haben?

Lessing: Ich habe nicht so drüber nachgedacht.

STANDARD: Das Foto machte Sie berühmt. Als Sie im Schwimmbad jemand drauf ansprach, kommentierten Sie das so: „Man erkennt mich sogar in der Badehose.“ Stolz?

Lessing: Wenn’s ein besonderes Bild wäre. Aber es ist nicht außergewöhnlich, jeder hätte es machen können, der auf die Idee gekommen wäre, unten zu bleiben und hinauf auf den Balkon des Belvedere zu fotografieren. Ich habe wahrscheinlich bessere Bilder gemacht, die aber weniger bedeuten. Das Staatsvertragsbild wurde zu einem Icon. Es ändert sich halt sonst sehr schnell, was bedeutend, was wichtig ist.

STANDARD: Was ist wichtig? Für Fotografen das Festhalten der Zeit.

Lessing: Können wir die Zeit festhalten? Wahrscheinlich nicht, wir sollten sie auch gar nicht festhalten. Ich gehöre überhaupt eher zu den Zweiflern der Wichtigkeit. Man nimmt sich sehr oft wichtig, nur weil man bei einem Ereignis dabei war, weil man etwas gesagt hat, das rezipiert wurde.

STANDARD: Als Sie nach Wien zurückkamen mit 24, hatten Sie so viel erlebt, wie für ...

Lessing: ... zwei Leben. Aber ich habe das nie so empfunden. Es ist immer ein Leben, das man mit sich herumträgt und immer wieder anders einsetzt. Manchmal hat man schon das Gefühl: Schön, noch da zu sein. Das Leben ist ein großartiges Abenteuer. (lacht)

STANDARD: Dichter Adolf Muschg sagt im Kontext mit dem Tod von Kindern, jedem sei eine gleichwiegende Portion Leben zugemessen. Leben sei nicht quantifizierbar.

Lessing: Ich glaub nicht, dass einem irgendetwas zugemessen wird. Es geht darum, was man aus dem Leben macht, welchen Teil des Lebens man voll lebt, wo man an Möglichkeiten vorbeigeht. Das Leben bietet uns eine Unmenge von Möglichkeiten, glücklich zu sein und auch unglücklich zu sein, zu schauen und zu sehen.

STANDARD: Sie haben aus dem Schauen Ihren Beruf gemacht, gemäß Ihrem Lieblingssatz aus Goethes „Türmer“: Zum Sehen geboren zum Schauen bestellt?

Lessing: Ja, mit Freude habe ich das getan.

STANDARD: Sie bezeichnen sich als areligiös, in Ihren Fotos beschäftigen Sie sich  aber immer mehr mit Religionsgeschichte. Warum?

Lessing: Ja, es interessiert mich, welche Brücken der Mensch bauen muss, weil er Angst hat, Lebensangst.

STANDARD: Hat man Lebensangst oder Angst vorm Sterben? Oder ist das Dasselbe?

Lessing: Eine Freundin sagt immer: Man sollte sich weniger mit dem Tod beschäftigen, sondern mehr mit dem Sterben. Aber: Kann man das eigentlich? Es ist noch keiner zurückgekommen und der Moment des Sterbens ist wahrscheinlich nicht erklärbar und nicht erzählbar. Ich hatte einen Herzinfarkt, der Rettungsarzt holte mich zurück. Ich weiß kaum etwas davon. Die Frage ist: Was hab ich davon erlebt, was meine Umgebung? Wahrscheinlich macht beides zusammen gar nichts aus. Weil das, was man nicht mehr erlebt, war schon in einer anderen Welt. Man muss da aufpassen, dass man nicht ins Pseudoreligiöse abgleitet.

STANDARD: Sie sind areligiös, gehen zu Feiertagen aber in den Tempel?

Lessing: Sicher, das gehört sich so.

STANDARD: In Ihrer Kindheit sagte Ihre Großmutter an Feiertagen zu ihrem Mann: „Schwarz, bet schneller, die Knödel werden kalt“?

Lessing: Genau so war es.

STANDARD: Und Ihre sozialdemokratische Mutter war sehr unglücklich, als Sie dem jüdischen Sportverein Hakoah beigetreten sind?

Lessing: Ja. Meine Mutter ist beim WAC geschwommen (lacht).

STANDARD: Als Pianistin hat sie mit Psychoanalytiker Wilhelm Stekel gearbeitet, der schon Musiktherapien machte. „Ich habe in meiner Jugend schon viele Psychopathen kennengelernt“, erzählen Sie. Vielleicht kamen Sie deshalb so gut mit den Mächtigen aus?

Lessing: Bei uns zu Hause haben wirklich einige sonderbare Gestalten Klavier gespielt. Mag sein, dass Ihr Ansatz stimmt, ich habe jedenfalls leicht Zugang zu den Mächtigen gefunden. Mir ist nicht ganz klar, wann jemand bereit ist, einen Fotografen ständig um zu sich zu haben. Ist das Eitelkeit? Die Fähigkeit, sich darzustellen? Aber diese Zeit ist sowieso vorbei. Kennedy hatte noch einen Fotografen, der konnte machen was er wollte im Weißen Haus. Heute können Sie nicht einmal mehr zum Rosegarden vordringen. Jedes Wort, jeder Schritt, jede Bewegung werden abgewogen.

STANDARD: Was hat das Charisma dieser Leute ausgemacht?

Lessing: Sie haben es geschafft, dass ihnen andere zuhören und dem Charisma verfallen. Dass man bereit ist, für sie etwas zu tun, sie zu wählen. Ob man dem richtigen Charismatiker aufgesessen ist, stellt sich erst viel später heraus. Sie sehen: Ich bin ein bissl sarkastisch, ein bissl ein Zweifler.

STANDARD: Sie sind halt ein Wiener.

Lessing: Genau.

STANDARD: Sie sind Freimaurer, als solcher sei es eine Ihrer Aufgaben, möglichst viel auch über sich selbst zu lernen, sagen Sie. Was haben Sie am besten gelernt?

Lessing: Mit anderen Menschen umzugehen.

STANDARD: Sie haben ja auch viele Künstler fotografiert, mit Karajan waren Sie drei Monate lang unterwegs. Hat er wirklich Fotografen geohrfeigt?

Lessing: Ja, mit Recht. Wenn ich voller Konzentration, mit halbgeschlossenen Augen zur Bühne gehe, und einer stellt sich vor mich hin und blitzt mich an: Dann reib ich ihm auch eine. Ich war auch dabei, als Karajan erstmals in Luzern dirigierte. Nachher wurde der russische Geiger Nathan Milstein gefragt, wie es war. Sagte er: „Ich hatte noch nie in meinem Leben solche Angst. Ich fiedle immer mit geschlossenen Augen, und als ich sie einmal aufmache sehe ich, dass Karajan sie auch zu hat. Was kann da nicht alles passieren!“ Ich werde oft gefragt, wie Karajan war. Ich habe keine Idee. Meine Konversation mit ihm beschränkte sich auf: "Guten Morgen", "Guten Abend", "Auf Wiederschaun, nächste Woche in Berlin." Das war’s. Man kennt die Leute, die man als Fotograf begleitet, nicht so gut, es ist ja immer die Kamera zwischen ihnen und mir. Meine wirklichen Freunde, die habe ich nicht fotografiert, oder nur selten.

STANDARD: Und wissen Sie, wie Qualtinger war?

Lessing: Der Qualtinger war der Qualtinger. Punkt.

STANDARD: Fehlen Leute wie er heute? Sie sagen, Österreich würde ein bisschen Aufbegehren und geistiger Krawall nicht schaden. Brauchen wir ein bisserl eine Revolution?

Lessing: Ein bisserl Widerspruch, von der Jugend. Vielleicht erfüllt der Außenminister dieses Anderssein, dieses Über-die-Flüsse-Drüberspringen. Wir werden sehen. Er ist jung, aufmüpfig, sagt, was er denkt und denkt auch viel. Und: Er hört zu, auch den Beratern, eine seltenes Phänomen in Österreich.

STANDARD: Als Sie draufkamen, dass Fotografieren die Welt nicht verändert, wechselten Sie zur Museums- und Kunstfotografie. Als Weltverbesserer gescheitert?

Lessing: Ich war kein Weltverbesserer. Wir dachten, etwa beim Ungarn-Aufstand, dass wir mit unseren Bildern etwas zum Verständnis und zur Veränderung der Politik beitragen könnten. Aber wir haben nur dokumentiert. Auch das ist wichtig.

STANDARD: Als Kunstfotograf haben Sie einmal in einem Hotel in Krakau mit Original-Schriften von Kopernikus, in denen noch die Zirkeleinstiche zu sehen waren, unterm Kopfpolster geschlafen. Warum das?

Lessing: Damit sie niemand stiehlt in der Nacht. Der Museumsdirektor musste verreisen und hat mir das Faszikel zum Fotografieren mitgegeben, ich hab’s am nächsten Tag wieder zurückgebracht. Heute liegt’s im Safe – und ich hab g’schlafen drauf.

STANDARD: Gibt es eigentlich ein Foto, das Sie besser nie gemacht hätten?

Lessing: Nein. Das Foto, das nicht gemacht werden sollte, das wurde auch nicht gemacht. Da habe ich nicht draufgedrückt.

STANDARD: Worum geht’s im Leben?

Lessing: Dass es ins Krematorium geht. (schweigt) Naja, stimmt ja. (Renate Graber, DER STANDARD, 21.6.2014)