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Victor Moses und Kollegen sollen ihre unglücklichen Landsleute beglücken.

Foto: AP Photo/Martin Meissner

In der nigerianischen Hauptstadt Abuja sind die kleinen Bars noch immer voll, wenn ab 17 Uhr Ortszeit das erste Spiel des Tages live aus Brasilien übertragen wird. Die Fußballfans quetschen sich vor kleine, flackernde Fernseher und verfolgen die Spiele mit Spannung, kommentieren jede Aktion und beklatschen jede Torchance. Nigerianer gelten in Westafrika als besonders fußballverliebt. Schon lange vor Anpfiff waren die WM und die Nationalmannschaft mit dem Kosenamen "Super Eagles" trotz der Dauerdebatte um die Terrorgruppe Boko Haram ("westliche Bildung ist Sünde") eines der beherrschenden Themen im Land.

Doch unter die Begeisterung mischt sich nun vor allem Angst. Denn während des Spiels Brasilien gegen Mexiko ist ein Public Viewing in der Stadt Damaturu im Bundesstaat Yobe im Nordosten Nigerias zum Anschlagziel geworden. Eine Autobombe riss in der Nacht zu Mittwoch mehr als 20 Menschen in den Tod. In Nigeria gilt es als ziemlich sicher, dass Boko Haram dahintersteckt. Bereits Ende Mai und Anfang Juni gab es zwei ähnliche Anschläge in den Bundesstaaten Plateau und Adamawa. Bei Letzterem starben in der Stadt Mubi bei einem lokalen Spiel mehr als 40 Menschen.

Verbot aus Vorsicht

Einige Bundesstaaten haben große Liveübertragungen deshalb verboten. Überall mahnten staatliche Behörden und Politiker zu besonderer Vorsicht und rieten, öffentliche Plätze und große Veranstaltungen zu meiden. "Das ist sehr schade", bedauert Yomi Kuku, der in der Wirtschaftsmetropole Lagos Direktor der nichtstaatlichen Organisation "Search and Groom" ist. Er und seine Mitarbeiter organisieren Straßenfußballturniere und unterstützen talentierte Kicker aus einfachen Verhältnissen. Dennoch: Für Kuku geht Sicherheit vor. "Es kann nicht sein, dass wir so möglicherweise noch mehr Menschen verlieren." Seit Beginn des Jahres kamen in Nigeria mehr als 2500 Menschen durch Terroranschläge ums Leben.

Dabei verschafft Fußball Ablenkung. In Nigeria wird nicht nur die WM verfolgt, sondern mit Vorliebe die englische Liga. Wer in Taxis einsteigt, sieht gleich, ob der Fahrer zu Chelsea oder Manchester United hält. Und der Sport vereint auch wie nichts anderes im Land. Der Staat mit den mehr als 170 Millionen Einwohnern, 250 ethnischen Gruppen und ebenso vielen Sprachen gilt seit jeher als gespalten. "Nur beim Fußball vergessen wir das", sagt Emmanuel Onwubiko, Leiter der Organisation "Schriftsteller für Menschenrechte". Das, was häufig betont wird, etwa die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe oder zu einer Religion, werde kurz vergessen, und die Menschen sähen sich als Nigerianer.

Darüber hinaus habe Fußball ein positives Image und schaffe bei jungen Menschen Hoffnung, so Onwubiko. "Wer gut ist, kann mit der Sportart Geld verdienen. Nigerianische Kicker spielen schließlich in Ländern wie Spanien, England und Deutschland. Das motiviert."

Doch genau diese Motivation und Begeisterung will Boko Haram nun wieder zerstören. "Die Gruppe sagt, Fußball sei unislamisch", erklärt Imam Sani Isah aus Kaduna und schüttelt den Kopf: "Ihre Anhänger wissen wirklich wenig über den Islam. Tatsächliche Islamgelehrte sagen wohl kaum, dass Fußball sündhaft ist." Anschläge auf Public Viewings würden, sagt Onwubiko, für Unbehagen, ja Panik sorgen. Es ist genau das, was die Terrorgruppe bezweckt.

Für Unbehagen sorgt in Nigeria allerdings noch etwas anderes: ein möglicher weiterer schlechter Auftritt der Super Eagles. Die trostlose Nullnummer gegen den Iran sitzt vielen Fans noch in den Knochen. Der nächste Gegner ist am Samstag Bosnien-Herzegowina, am Mittwoch folgt Argentinien. "Eine Herkulesaufgabe", sagt Yomi Kuku. "Wenn wir nicht direkt am Anfang zwei Tore machen, dann ist es aus", lautet seine düstere Prognose. Und dann könnten die nigerianischen Superadler ganz schnell zu Hühnchen und zum Gespött des ganzen Landes werden. (Katrin Gänsler aus Abuja, DER STANDARD, 20.6.2014)