Dienstag dieser Woche entschied Gasprom in nur zu vermutender Einigkeit mit dem Kreml den Stopp der Gaslieferungen an die Ukraine. Zum dritten Mal nach den Jahren 1996 und 2008 führen eklatante Meinungsunterschiede in Bezug auf Preis und Bezahlung zu einer Situation, in der sich die EU mit ernsthaften Sorgen um die Energieversorgungssicherheit konfrontiert sieht.

Noch überwiegen die kalmierenden Stimmen, die von den vom Stopp nicht betroffenen Transitlieferungen in die EU berichten, von halbgefüllten Speichern und neuen "Reverse Flow"-Optionen, die in den vorangegangenen Krisen nicht zur Verfügung standen. Unübersehbar bleibt jedoch die Ratlosigkeit der EU, wo über LNG-Lieferungen vermeintlich billigen US-Schiefergases, den Ausbau erneuerbarer Energie, Ersatzlieferungen durch intensivierte norwegische Gasförderung und aserisches Gas schwadroniert wird.

Fakt ist, dass kurz- und mittelfristig an vergleichbar günstigem russischem Gas kein Weg vorbeiführt. Fakt ist aber auch, dass die Krise das Potenzial hat, die Spannungen zwischen Russland und der EU in eine von keiner Seite gewünschte Eskalationsspirale zu führen. Denn Russland und Europa sind voneinander abhängig. So wie die EU russisches Gas benötigt, so benötigt Russland westliche Devisen und Investitionen. Der medial wirksam inszenierte Abschluss eines Gasliefervertrages zwischen Russland und China hat dabei weder auf die für Europa verfügbaren Gasmengen noch auf die gegenseitige Abhängigkeit einen Einfluss. Er macht jedoch deutlich, dass der autokratisch regierte Kreml die Klaviatur der Geopolitik wesentlich besser beherrscht als die EU.

Tatsächlich ist Europa heute besser für Lieferengpässe gerüstet als noch vor einigen Jahren. Die Gasspeicher sind zu mehr als zur Hälfte gefüllt. Die technischen Voraussetzungen für die Umkehrung des Gasflusses, also den Gastransport von West nach Ost, wurden signifikant erweitert, sodass zum Beispiel Gas aus Deutschland über Polen auch in die Ukraine geleitet werden kann. Genau das passierte am 15. April, als auf der Basis eines Vertrages zwischen der ukrainischen Naftogas und der deutschen RWE Gas in Richtung Ukraine zu fließen begann. Zuvor existierende Gaslieferungen via Polen wurden im Dezember 2013 unterbrochen, nachdem Gasprom in trauter Einigkeit mit dem Kreml den Gaspreis für die Ukraine um 30 Prozent auf das auch von der EU bezahlte Niveau senkte. Zusätzlich tragen der aufgrund milder Winter und der wirtschaftlichen Rezession stark gesunkene Verbrauch, billige Kohle sowie das 2009 verabschiedete dritte Liberalisierungspaket zu einer stärkeren Position der EU bei.

Provokant-zynische Aktionen

Angesichts der für den Westen nur schwer verständlichen russischen Aktionen, die in provokant-zynischer Weise grundlegende völkerrechtliche Normen missachten, wiederholt die EU mantraartig die bereits seit den beiden Ölkrisen in den 1970er-Jahren bekannten Phrasen. Kein Wunder, dass der Kreml diesen Phrasen wenig Glauben schenkt und aus einer Position der Stärke die Vermittlungsbemühungen um die Rückzahlung von 4,5 Milliarden US-Dollar Gasschulden der Ukraine sowie eine Preisgarantie für die Zukunft ablehnt.

Die Ukraine, die 2006 und 2009 unter dem Verdacht stand, für Europa bestimmtes Gas aus den Leitungen entnommen zu haben, war bereit, 326 Dollar pro 1000 Kubikmeter Gas zu zahlen und mithilfe der EU eine Milliarde Dollar Schulden sofort zu begleichen und für den Rest Ratenzahlungen zu vereinbaren. Moskaus Angebot waren ein Verzicht auf eine zusätzliche Gebühr und damit ein dem europäischen Gaspreis angeglichener Preis von 385 Dollar. Kiew pokerte hoch und lehnte mit dem Argument ab, dass es keine Garantie gebe, dass Russland die zusätzliche Gebühr nicht wieder einführen würde, was den Chef von Gasprom, Alexei Miller, dazu veranlasste, den Ukrainern Erpressung und illegale Gasentnahme vorzuwerfen.

Eine erhöhte Nervosität ist aber auch in Moskau festzustellen. Vergangenen Dienstag verlor der RTS Index 1,25 Prozent, und die durch den Rubel dominierte MICEX verlor beinahe 0,5 Prozent. Eine bereits vor der Krise schwächelnde russische Wirtschaft und eine ausgeprägte Kapitalflucht machen Russlands Abhängigkeit vom Westen deutlich. Russland scheint willens, ökonomische Einbußen als Preis für geopolitische Gewinne hinzunehmen.

Die vom Westen verhängten Sanktion hinterlassen bereits Spuren, haben doch die US-Ratingagenturen Standard & Poor's und Fitch Russland bereits schlechter eingestuft und damit die Kreditbeschaffung erschwert. Die Drohung, russischen Finanzinstitutionen den Zugang zu den von den USA kontrollierten internationalen Zahlungssystemen zu versperren und damit die Möglichkeit, Erdölexporte in US-Dollar zu handeln, ist ein Damoklesschwert für die russische Wirtschaft. Wie lange sich der Kreml es sich leisten kann, die ökonomische Logik zugunsten der politischen aufzugeben, ist fraglich.

Alleine auf den Sieg der ökonomischen Vernunft, innereuropäische Solidarität und warme Winter zu hoffen, ist allerdings für Europa zu wenig. Mehr als ein Drittel des europäischen Gasverbrauchs wird durch russische Importe abgedeckt, und die Hälfte davon fließt durch die Ukraine.

Die von beiden Seiten beim Stockholmer Internationalen Schiedsgerichtshof eingelegten Rechtsmittel, die bei der WTO eingereichte Klage Russlands gegen die vom Westen verhängten Sanktionen, die von der EU vorgebrachten Beschwerden gegen die geplante, die Ukraine umgehende South-Stream-Gaspipeline, ebenso wie die Weigerung Brüssels, eine Entscheidung in Sachen OPAL-Pipeline zu treffen, sind der Stimmung zwischen Russland und der EU nicht zuträglich. Im Falle von OPAL ist die Brüsseler Haltung zudem nicht nachvollziehbar, wäre damit doch endlich ein Nadelöhr im Leitungssystem geschlossen und North Stream könnte mit mehr als den derzeitigen 50 Prozent befüllt werden.

Energiebinnenmarkt

Einmal mehr zwingt eine Krise die EU, ihre Energiepolitik zu überdenken. Die Frage ist, ob es bei vollmundigen Ankündigungen bleibt oder ob in der Integration des Energiebinnenmarktes weitere Schritte gesetzt werden. Vor allem eine Energieunion, wie von der Kommission auch in einem offiziellen Memo vom 28. Mai festgehalten, wäre vonnöten. Nationale Energieriesen, bilateral mit Russland abgeschlossene Gaslieferverträge, unterschiedliche Energiemixe und Importabhängigkeiten haben bisher dazu geführt, dass die EU getrennt marschiert und gemeinsam verliert.

Im Augenblick ist neben der Ukraine vor allem die Umwelt der Verlierer, da Gaskraftwerke stillgelegt werden und Kohlemeiler reaktiviert bzw. sogar neu gebaut werden. Es führt kein Weg an einer Energieunion vorbei, in der eine gemeinsame Energieaußenpolitik, geleitet von einer vernünftigen Umweltpolitik, die vor allem eine Reduktion des enormen Energieverbrauchs anstrebt, die Versorgungssicherheit Europas gewährleistet. (Johannes Pollak, Samuel R. Schubert, DER STANDARD, 20.6.2014)