Bild nicht mehr verfügbar.

Anhänger des schiitischen Klerikers Muqtada as-Sadr paradieren in der irakischen Stadt Najaf.

Foto: Ahmed Mousa/REUTERS

Bild nicht mehr verfügbar.

Mobilisierung: Schiiten posieren mit ihren Waffen in Bagdad.

Foto: Thaier Al-Sudani/Reuters

Der Sturm auf die irakische Stadt Mossul, Massenhinrichtungen von schiitischen Soldaten durch sunnitische Extremisten und der Vormarsch auf Bagdad – der "Islamische Staat im Irak und Großsyrien" (ISIS) verbreitet im Zweistromland Angst und Schrecken. Die Schiiten im Land mobilisieren und organisieren sich in Milizen, die Regierung des durch konfessionelle Konflikte tief gespaltenen Landes spricht von einer Gegenoffensive. Phillip Smyth, Experte für militanten schiitischen Islamismus, meint, dass die Grenzen zwischen Irak und Syrien de-facto gefallen sind. Hinter vielen der schiitischen Milizen sieht er den Iran.

derStandard.at: Der große Erfolg der Offensive der Gruppe Islamischer Staat im Irak und Syrien (ISIS) kam für viele im Westen überraschend. Aber wie geschockt oder überrascht sind derzeit die Schiiten im Irak?

Smyth: Ich kann natürlich nicht über alle Schiiten im Irak sprechen, aber die Menschen, mit denen ich gesprochen habe, sind geschockt, weil sie die existenzielle Bedrohung sehen, die ISIS für sie darstellt. Als Teile der radikalen Islamisten Mossul stürmten und die irakischen Sicherheitskräfte zerfielen, verstanden die Schiiten sofort, dass sie sich jetzt zusammentun müssen. Nur weil jemand Angst vor einem anrückenden Feind hat, heißt das ja nicht, dass man sich in der Ecke kauernd fürchten müssen. Viele Schiiten begreifen, dass, wenn sie das machen, das Resultat nicht viel besser wäre. Und der Zusammenbruch der Sicherheitskräfte hat letztlich zu einer Massenmobilisierung unter den Schiiten geführt.

Aber andererseits wussten die Leute, die sich mit dem Irak genau beschäftigen, schon lange, dass etwas kommt. Die Frage war nur, was und wann.

derStandard.at: Wie viel Einfluss auf den Erfolg der sunnitischen Offensive hatte die stark konfessionell geprägte Politik des schiitischen Premiers Nouri al-Maliki?

Smyth: Man kann zwar nicht wirklich sagen, Aktion A führte automatisch zu Reaktion B. Aber der Druck, der zu den Ereignissen dieser Tage führte, kam nach der Militäroffensive Malikis.

Was Maliki will, ist die Sunniten aus dem Arrangement in Bagdad auszugrenzen.

Maliki erlaubte auch tausenden irakischen Schiiten, nach Syrien zu gehen, um dort einen offenen konfessionellen Krieg zu führen. Und einige Leute kamen in den Irak zurück und wurden Teil der Streitkräfte. Da zeichnete sich ab, dass eine Reaktion kommt: Wenn man sechs Monate lang Truppenbewegungen, Offensiven und Umschichtungen im schiitischen Sektor hat, dann ist es geradezu vorgezeichnet, dass es eine Antwort darauf gibt.

Wenn man sich genau ansieht, wer hinter der neuesten Offensive in Mossul steckt, so sind das Rebellen, ehemalige Baathisten und ISIS, die die Initiative starteten. Viele anerkennen das strategisches und taktisches Denken der ISIS nicht, das nötig war, um diesen Erfolg herbeizuführen. Und die bloße Tatsache, dass ISIS nun Basen und damit Rückzugsorte in Syrien hat und sich dort stabilisieren konnte, ist sicherlich auch ein weiterer Grund, warum sie so erfolgreich waren. Eines geht ins andere über.

Malikis Politik der konfessionellen Spaltung war nicht der einzige Grund für den Erfolg der Offensive, aber sie spielte mit Sicherheit eine enorme Rolle.

derStandard.at: Nachdem ISIS Mossul, die zweitgrößte Stadt des Irak gestürmt hat, stehen die radikal-islamischen Kämpfer nun vor den Toren Bagdads. Aber wie wahrscheinlich ist ein erfolgreicher Angriff auf die irakische Hauptstadt?

Smyth: Wenn hunderttausende Schiiten mobilisiert werden und man das mit der viel kleineren ISIS vergleicht, dann weiß ich nicht wie effektiv so ein Vorstoß der ISIS wirklich wäre. Ich denke, sie werden zuerst gewonnenes Territorium sichern, bevor sie irgendeine Art Vorstoß wagen werden. Derzeit haben sie das Momentum auf ihrer Seite und sie können den Ton angeben. Es ist wahrscheinlich, dass sie in der Region Bagdad ausgeweitete Operationen durchführen.

Bagdad ist zwar eine Art rote Linie, aber es ist wichtig zu verstehen, dass ISIS ideologisch einen islamischen Mega-Staat fordert. Glauben sie wirklich, dass sie aufhören werden? Natürlich nicht. Sie würden auch nicht in Basra (Stadt im Süden des Irak, Anm.) aufhören, wenn sie dort wären.

Aber sie werden wohl irgendeine Art von Strategie entwickeln, wie sie Bagdad wirklich erobern können.

derStandard.at: Aufseiten der Schiiten melden sich derzeit viele freiwillig für Milizen. Eine Situation, die es bereits nach dem Anschlag durch sunnitische Extremisten auf den für Schiiten so wichtigen Schrein von Samarra 2006 gegeben hat. Wie ist die Mobilisierung der Schiiten im Vergleich zu damals?

Smyth: Die Mobilisierung ist viel stärker, schneller und auch ausgeprägter. Aber es hängt auch stark davon ab, um welche der zahlreichen schiitischen Milizen es sich handelt. Auffallend ist, dass die vom Iran gestützten Milizen die besten Rekrutierungsstrategien haben und auch die ersten waren, die begonnen haben zu rekrutieren. Sie haben also einen Vorsprung auf Milizen von anderen Schiiten wie jenen von Prediger Muqatada as-Sadr.

derStandard.at: Im Spektrum der Schiiten gibt es zahlreiche verschiedene Gruppen wie Liwa Abu Fadl al-Abbas, Kataib Hezbollah oder die Badr-Organisation – von außen wirken die Schiiten mitunter fragmentiert.

Smyth: Das ist iranische Strategie seit mehr als einem Jahrzehnt. Was sie gerne machen, ist, eine Vielzahl von Gruppen nach Hisbollah-Vorbild zu schaffen. Sie schaffen diese Vielfalt, damit es so aussieht, als handle es sich um unterschiedliche Gruppen. Aber wenn man sich das genauer ansieht, so sind sie alle Valeyat e-Faqih, der offiziellen Ideologie des iranischen Regimes und damit Khamenei gegenüber loyal. Die Wahrnehmung, die sich der Iran wünscht, ist, dass es sich bei diesen vielen Hisbollah-ähnlichen Gruppen um eine Volksbewegung handelt.

Das heißt aber nicht, dass alle schiitischen Gruppen vom Iran gesteuert sind. Das ist die andere Seite der Medaille: Als Großayatollah Sistani kürzlich eine Fatwa ausgab, sagte er nicht, dass man sich einer dieser Milizen anschließen soll. Er sagte vielmehr, dass man Armee und den Sicherheitskräften beitreten soll. Und der schiitsche Prediger Muqtada as-Sadr baut gerade seine Milizen wieder auf.

Aber die vom Iran unterstützten Gruppen haben einen Vorsprung auf all das. Sie haben mit der Rekrutierung schon viel früher, vor dieser Offensive, begonnen. In der jetzigen Situation herrscht jedoch eine gewisse Einigkeit, da die Schiiten, egal von welcher Miliz oder politischen Zugehörigkeit, mit einer existenziellen Bedrohung konfrontiert sind, nämlich der ISIS.

derStandard.at: Es gibt Forderungen nach einer Kooperation mit dem Iran, um der ISIS Einhalt zu gebieten. Wenn man sich aber viele der vom Iran unterstützten Gruppen im Irak ansieht, so sind einige davon ja selbst Extremisten.

Smyth: ISIS praktiziert eine so derart brutale Form der Gewalt, dass in der internationalen Gemeinschaft natürlich die Alarmglocken geläutet haben. Aber es gibt zwei Seiten der Medaille: Natürlich muss eine Gruppe wie die ISIS mit allen Mitteln bekämpft werden, aber das mit Gruppen abzutauschen, deren Ideologie antiwestlich, unterdrückerisch und teilweise gewaltsam ist, würde ein Problem schaffen. Manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht.

Aber welche Druckmittel hat der Westen schon? Seit dem Abzug der US-Truppen gar keine mehr. Es ist also rundherum schwierig.

derStandard.at: Sunnitische Extremisten auf der einen Seite, schiitische Milizen auf der anderen und mittendrin irakische Sicherheitskräfte, die zerfallen. Was bleibt vom Irak eigentlich als Nationalstaat übrig?

Smyth: Ich denke nicht, dass der Irak noch ein Nationalstaat im westlichen Sinne ist. Es gibt einen schiitischen Maliki-Rumpfstaat, es gibt einen sunnitischen Bestand, der mehr oder weniger unter der Leitung von ISIS steht, und dann gibt es die Kurden, die die Situation sowohl als Bedrohung aber auch als Möglichkeit sehen.

Was ist vom Irak übrig? Wenn man ISIS an der Türschwelle von Bagdad stehen hat, schiitische Kräfte versuchen, den Sicherheitsapparat zu übernehmen – was ist dann noch dieser Irak, von dem alle sprechen?

Diese Zusammenlegung der Fronten von Syrien und Irak hat dazu geführt, dass die Grenzen de facto gefallen sind. Wenn schiitische Milizen aus dem Irak nach Syrien geschickt werden, um die dortigen schiitischen Heiligtümer gegen sunnitische Extremisten zu verteidigen, dann wieder zurückgeschickt werden, um Samarra zu verteidigen, dann spricht das nicht unbedingt dafür, dass Staatsgrenzen noch eine große Bedeutung haben.

Und dann gibt es noch ISIS – die könnten sich nicht weniger um Grenzen scheren. Also dieses Konzept der Staatsgrenzen ist wegen der Kämpfe im Irak und Syrien gefallen. (Stefan Binder, derStandard.at, 19.6.2014)