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Wo Neptungras wächst, ist das Meer artenreich und sauber. Die Unterwasserpflanze filtert Schwebekörper aus dem Wasser.

Foto: Corbis/Ruiz

Glasbläser verwendeten es zum Einwickeln ihrer Waren, Bauern warfen es im Herbst aufs Feld, desinfizierten damit Wunden oder isolierten Dächer. Die Menschen auf Formentera wussten schon immer, wie sie aus dem dunklen Laub, das sich jeden Herbst an den Stränden anhäuft, Nutzen ziehen konnten. Stürme treiben die abgestorbenen Blätter der Unterwasserpflanze Posidonia oceanica ans Ufer. Dort liegen sie dann, stinken und ziehen Fliegen an. Wenn sie es brauchten, gingen die Einheimischen an die Strände und holten sich etwas von dem Zeug. Das war in vortouristischen Zeiten.

Jetzt, wo alljährlich 800.000 Menschen die kleinste der bewohnten Baleareninseln besuchen, ist das anders. Die Berge müssen weg, bevor die Touristen kommen, denn die lieben Formentera wegen der puderfeinen Sandstrände und des türkisblauen Wassers. Dabei hütet gerade das Neptun- oder Seegras, wie die Posidonia oceanica auf Deutsch heißt, das Erfolgsgeheimnis der Insel. Denn was unappetitlich wirkt, ist der Garant für weichen Sand und sauberes Wasser.

Ein ewiges Spiel

Die Pflanze gedeiht nur im Mittelmeer und schafft dort Bedingungen für die charakteristisch blaue Färbung des Wassers. Was schon Romantiker wie Goethe oder Cézanne verzauberte, entsteht bei komplexen Prozessen unter Wasser, nicht tiefer als 40 Meter. Das Neptungras ist keine Alge. Es betreibt Fotosynthese, braucht Sonnenlicht, gedeiht nur auf sandigem Grund und in sauberem Wasser. Im Idealfall bildet es ausgedehnte Wiesen mit bis zu zwei Meter langen Blättern, Blüten und Früchten.

Im Dickicht der Pflanzen passiert beim ewigen Spiel der Wellen und unter Sonneneinstrahlung eine Menge. Tote Schalentiere, Fischskelette oder Muscheln werden in kleine Partikel zerrieben, die sich als Sand an der Küste ablagern. Meeresbewohner jeglicher Art nutzen die dichten Wiesen, um dort zu "grasen", Eier abzulegen oder geschützt groß zu werden. Die Pflanzen absorbieren zudem viel Kohlendioxid, mehr als die meisten Wälder, und binden es am Meeresgrund. Schließlich wirken die Wiesen wie Wellenbrecher. Sie bremsen die Brandung, diese kommt sanfter an Land und trägt weniger Material ab. Und Neptungras filtert Schwebekörper aus dem Wasser. Wo es wächst, ist das Meer artenreich, sauber und von Sandstränden gesäumt. Das angespülte Laub verhindert, dass die Sandkörnchen vom Wind abgetragen werden.

Die Regierung der Balearen hat das bereits vor 15 Jahren erkannt. Gemeinsam mit dem Forschungsinstitut Imedea, das seinen Sitz auf Mallorca hat, ist ein Plan zum Schutz des Neptungrases entstanden. 1999 wurde mit EU-Geldern das "Life Posidonia"-Projekt gegründet. Meeresbiologe Carlos Duarte vom Imedea betreut es.

Mensch ist größte Bedrohung

Noch wichtiger als Forschung und Beobachtung ist für Duarte Aufklärung. Denn die größte Bedrohung dieses Ökosystems ist der Mensch. Wildes Ankern, Verschmutzung der Gewässer und steigende Wassertemperaturen wegen des Klimawandels sind Gefahren. "Das Neptungras ist sehr verletzlich", sagt Duarte, "es gehört weltweit zu den Pflanzen, die am langsamsten wachsen, nur etwa einen Zentimeter pro Jahr."

Rund um Formentera, wo die meisten Küstenabschnitte unbebaut sind und es keine verschmutzende Industrie gibt, geht es der Pflanze verhältnismäßig gut. Sie wächst praktisch überall, erstreckt sich aber besonders weit an der Nordküste. Dort liegt unter Wasser ein 700 m2 großer Teppich, der aus rund 100 Mio. Einzelpflanzen besteht und Formentera mit Ibiza verbindet. 2006 haben Forscher des Imedea zufällig eine Neptungraspflanze entdeckt, die fast acht Kilometer lang und geschätzte 100.000 Jahre alt ist. Sie wäre somit der älteste und größte lebende Organismus der Erde.

Die Wiese zwischen den Inseln steht seit 1999 unter Unesco-Schutz. Sie ist ein wichtiges Element des Schutzgebietes Parc natural de ses Salines d'Eivissa i Formentera. Das umfasst Teile der beiden Inseln sowie das Meer dazwischen. Um das prähistorische Monstrum zu schützen, wurden vergangenen Sommer fast 400 Bojen in sandigem Grund montiert. Denn just das Meer vor Formenteras seichter Nordküste gehört zu den beliebtesten Ankerplätzen im Mittelmeer. Traumhafte Strände und türkisblaues Wasser locken im Sommer täglich tausende Touristen. Bis jetzt zogen die beim Ankerlichten immense Furchen in die Wiesen, pflügten diese geradezu und rissen dabei viele Pflanzen aus. Nun müssen Nautiktouristen per Telefon einen Platz an einer der Bojen reservieren. Wer die nicht nutzt, sondern selbst Anker wirft, wird bestraft und aus dem Paradies vertrieben. (Brigitte Kramer aus Sant Francesc de Formentera, DER STANDARD, 18.6.2014)