Gelassenheit - in allen buddhistischen Schulen ein zentrales Vermögen

Foto: Christoph Prantner

Wer hätte das wohl noch nicht durchlitten: Verflixt noch mal, wo habe ich bloß die Schlüssel hingelegt? Immer mehr aus dem inneren Gleichgewicht gebracht, versucht man zunehmend entnervter, die Schlüssel zu finden, die Tür zu überlisten.

Und wer hätte sich auch dar über noch nicht gewundert: Je mehr man sich das Hirn zermartert und sich von der Suche nach Antworten auf diese Fragen in den Wahnsinn treiben lässt, desto wirkungsloser erweist sich das Bemühen. Und dann, irgendetwas anderes hat die Aufmerksamkeit von diesen Problemen fortgeführt, tauchen im Kopf die Antworten auf – wie selbstverständlich, wie aus dem Nichts ins Bewusstsein geschoben, ohne jede Anstrengung, beinahe gemein selbstverständlich, so als hätten Kopf und Körper die Dinge auf ihre unangestrengte Weise geregelt.

Krampf blockiert

Beispiele für dieses erstaunliche Phänomen, dass krampfhaftes Bemühen nur blockiert, gibt es in Fülle. Sportler beispielsweise kennen es zur Genüge, dass sie völlig bei sich und augenscheinlich anstrengungslos – "in der Zone“, wie es unter ihnen heißt – Höchstleistungen vollbringen, beim bewussten Streben nach der Höchstleistung aber nicht selten kläglich versagen. Auch beim Schreiben zeigt es sich gern und oft. Verbissenes Kämpfen um Gedanken und Formulierungen führt zu nichts. Fließen sie jedoch wie von selbst in die und aus der Feder, denkt und schreibt es sozusagen in einem, wächst und rundet sich wie von Zauberhand aufs Papier gebracht.

Unanstrengend anstrengen

Der große Saxofonist Charlie Parker soll seinen jungen Kollegen geraten haben: "Spielt euer Saxofon nicht, lasst euch von ihm spielen.“ Diese "anstrengungslose Anstrengung“, dieses mühelose, spontane, selbstvergessene Handeln aus sich selbst heraus hat Edward Slingerland zum Thema seines Buches Wie wir mehr erreichen wenn wir weniger wollen – Das Wu-Wei-Prinzip gemacht, in dem er uraltes chinesisches philosophisches Wissen mit neuen Erkenntnissen der Kognitionswissenschaft verknüpft.

Und damit hat der Professor für Asienstudien an der University of British Columbia im kanadischen Vancouver nicht nur ein faszinierendes Thema aufgegriffen, sondern auch ein erhellendes, fern jedweder Esoterik neue, hilfreiche Verhaltensmöglichkeiten erschließendes Buch geschrieben.

Handeln durch Nichthandeln

Schon als Student angezogen von der chinesischen Philosophie, konzentriert sich Slingerland – inzwischen Experte auf diesem Gebiet wie auch auf jenem der Kognitionswissenschaft, der Wissenschaft vom Denken – in seinem Buch auf einen Begriff, der so etwas wie eine Gegenwelt zu der das heutige Geschehen stark dominierenden Machermanie darstellt, dem Willen, etwas zu zwingen, zu erzwingen: auf Wu-Wei, gelegentlich paradox und etwas irreführend erklärt als "Handeln durch Nichthandeln“.

Wörtlich und zutreffender übersetzt bedeutet Wu-Wei "nicht eingreifen“ oder "nicht handeln“ – nur dass es dabei keineswegs um träges Nichtstun geht.

Ganz im Gegenteil! Bezieht sich der Begriff doch auf den dynamischen, mühelosen und unbefangenen Geisteszustand einer Person, die optimal aktiv und effektiv ist. In den Worten von Slingerland: "Weil wir uns in der modernen Welt exzessiv auf die Kraft des bewussten Denkens und die Vorteile von Willenskraft und Selbstkontrolle verlassen, übersehen wir die universelle Bedeutung dessen, was man als ‚Körperdenken‘ bezeichnen könnte: unwillkürliches, schnelles und halbautomatisches Verhalten, das mit wenig oder ohne bewusste Beeinflussung aus dem Unterbewusstsein strömt.“

Schwer zu erhaschen

Slingerland erhellt die dahinterstehende Bedeutung und Weite des Begriffs weiter, wenn er das Ziel seines Buches beschreibt: die vielen Facetten der Spontaneität zu erforschen und darüber hinaus dem Geheimnis auf die Spur zu kommen, das sie darstellt: Wieso ist sie so wichtig für unser Wohlbefinden und doch so schwer zu fassen?

Wer jetzt an gelasseneres, weniger verbissen bemühteres Umgehen mit der Welt und dem, was sie einem abfordert, denkt, denkt in die richtige Richtung.

Das Problem, etwas zu erreichen, ohne sich bewusst, ohne sich willentlich anzustrengen, ist uralt und hat die Denker aller Zeiten und Kulturen beschäftigt. So wies beispielsweise schon der römische Weisheitslehrer Seneca darauf hin: "Die Aufgeregtheit des Gemüts trägt nichts zu einer konstruktiven Gestaltung des Alltags bei. Die geschärfte emotionale Kraft wird erst nutzbringend eingesetzt, wenn die Seele sich mit konzentrierter Aufmerksamkeit auf die Gegenwart richtet, ihre Kraft zweckmäßig einsetzt und sich wieder entspannt.“

Doch wenn wir auch dazu neigen, den maßgeblichen Ursprung von Kultur und kultiviertem Denken, insbesondere jenem des Umgangs mit sich selbst und der Welt gewidmeten, in der griechisch-römischen Antike zu verorten, es waren wie gesagt nicht nur die griechischen und römischen Denker, die sich mit diesem Fragenkomplex auseinandersetzten.

Chinesische Weisheit

Auch bedeutende bis heute einflussreiche Denker im alten China befassten sich in der Zeit der Streitenden Reiche zwischen dem fünften und dritten Jahrhundert vor Christus damit. Mit fünf von ihnen setzt sich Slingerland jeweils im Spannungsverhältnis zu den Erkenntnissen heutiger Kognitionsforschung auseinander. Und er ist überzeugt, dass diese Denker, "die aus der sogenannten konfuzianischen und daoistischen Tradition stammen, tiefe Einblicke in die Natur der Menschen hatten, die uns noch heute sehr nützlich sein können.“

Im Zustand des Wu-Wei, um eine hilfreiche Gedankenbrücke zu bauen – er ähnelt in vielerlei Hinsicht dem von dem amerikanischen Psychologen Mihaly Csikszentmihalyi erforschtem Zustand des Flow –, hat man das Gefühl, so Slingerlands Beschreibung, eigentlich nichts Besonderes zu tun, während einem zur gleichen Zeit etwas Besonderes gelingt. Ist ein Mensch im Wu-Wei, so besitzt er automatisch De, was mit Tugend, Kraft oder charismatischer Kraft übersetzt wird.

Dieses De ist ein Strahlen, das andere wahrnehmen und das sich, beispielsweise im Bereich der Menschenführung, auf extrem effektive Weise auf die zwischenmenschlichen Interaktionen auswirkt. (DER STANDARD, 21.6.2014)