Der türkische Premier Erdogan hat in Wien, wie hier bei einer Demo im Stadtpark, auch Gegner. Dennoch werden seine nationalistischen Parolen bei vielen Unzufriedenen verfangen.

Wien - Die Mundpropaganda lief auf Hochtouren. "Gehst eh mit zum Erdogan?!", lautete der Aufruf, den Bülent Öztoplu neulich im Fitnesscenter x-mal gehört hat. Wie von einem Popstar hätten die Burschen da geschwärmt: "Er ist männlich, autoritär, lässt sich nichts sagen - ein cooler Typ."

Öztoplu bereitet solch ein Gehabe nicht erst Unbehagen, seit sich der türkische Premier Recep Tayyip Erdogan zum Wien-Besuch anschickt. In vielen Jahren als Sozialarbeiter hat der heutige Szenewirt oft erlebt, wie sich türkische Jugendliche in ihrer - wie er sagt - "patriachalischen" Welt einbetoniert hätten. Eine "Blockade" für Integration sieht Öztoplu darin: "Die Burschen sollen rasch Geld verdienen, die Mädchen den Haushalt führen. Bildung gilt als Zeitverschwendung."

Soziale Charts geben Kritik wie dieser Nahrung. Natürlich lassen sich 268.400 Bürger mit türkischem Migrationshintergrund nicht über einen Kamm scheren, doch im Schnitt schneidet die drittgrößte Zuwanderergruppe schlecht ab - und zwar nicht nur im Vergleich mit den "Einheimischen", sondern auch mit den Migranten aus Ex-Jugoslawien. Der Anteil der Kinder mit sprachlichem Förderbedarf ist ebenso höher wie jener der Schulabbrecher. 64 Prozent der türkischstämmigen Menschen zwischen 25 und 64 Jahren haben nur Pflichtschulabschluss, gegenüber 36 Prozent der Ex-Jugoslawen und 12 Prozent der Bürger ohne Migrationshintergrund. Folglich sind auch Arbeitslosigkeit und Armutsgefährdung am höchsten.

Abgeschoben in Sonderschule

Aufgetan hat sich die Kluft vor 50 Jahren, als die ersten türkischen "Gastarbeiter", schlechter ausgebildet als die jugoslawischen Kollegen, eintrudelten. Weil anders als in Deutschland attraktivere Jobs in der parteibuchgesteuerten verstaatlichten Industrie versperrt blieben, kam etwa Personal für die Bau-, Reinigungs- oder Lebensmittelbranche. Im Irrglauben, dass die Türken nur auf Zeit blieben, tat der Staat kaum etwas, um den Kindern der Zuwanderer Aufstieg zur ermöglichen - im Gegenteil, sagt Migrationsforscher Bernhard Perchinig: "Wer nicht gut Deutsch konnte, wurde rasch in die Sonderschule gesteckt. Mancherorts gab es eigene Ausländerklassen."

Eine "klassische Vererbung von Bildungschancen" sieht der Experte hinter dem mitgeschleppten Rückstand. Zwar steuere der Staat mit der Ausbildungspflicht bis 18 oder dem verpflichtenden Kindergartenjahr, das besser auf drei Jahre ausgeweitet gehöre, zwar endlich entgegen, doch das Schulsystem sei auf die Mittelschicht zugeschneidert, indem es von den Eltern eine aktive Rolle verlange - und damit kämen viele türkische Väter und Mütter nicht zurecht.

Dabei sei das Klischee falsch, dass die Eltern als einfache, in Traditionen verhaftete Leute kein Interesse an Bildung ihrer Kinder hätten. Viel mehr seien die Hoffnungen oft übertrieben, sagt Perchinig: "Da sollen die Kinder gleich Anwalt oder Arzt werden, um die Migrationsgeschichte der Familie erfolgreich abzuschließen." Allerdings fehlten sowohl die Ressourcen zur Förderung, als auch der Einblick, was das Bildungsangebot ermöglichen kann - und was nicht: "Zwischen Lehrern und Eltern herrscht vielfach gegenseitige Ignoranz."

Abgekapselt in der Moschee

Doch liegt es nur am "System", das die Hierarchien zementiert? Viele Streetworker erzählen ähnliche Geschichten wie ihr Ex-Kollege Öztoplu: Häufiger als früher kapselten sich türkische Jugendliche, entledigt von Aufstiegsehrgeiz, in ethnischen Vereinen oder Moscheen ab. Ob der Rückzug nun eine Reaktion auf Diskriminierung und enttäuschte Hoffnungen ist oder das Verharren in Traditionen vielmehr die Benachteiligung befeuert, lässt sich mangels valider Untersuchungen nur mutmaßen. Das gleiche gilt für einen möglichen Treiber des Phänomens: Wie weit in der Masse von Österreichs Muslimen ein konservatives bis radikales Islamverständnis um sich greift, ist schwer zu quantifizieren.

Ednan Alsan, Professor für Religionspädagogik an der Uni Wien, registriert Besorgnis erregende Indizien wie die "wachsende Zahl" islamischer Privatschulen und bekrittelt, dass türkische Vereine in Wien Millionen für Gebetshäusern ausgeben würden, während für Bildung nur ein Bruchteil abfalle. Wien-Besucher Erdogan schreibt Aslan dabei eine fatale Rolle zu. Indem der Premier nicht nur Organisationen fördere, die seiner konservativ-religiösen Linie entsprechen, sondern auch Türken im Ausland in die Opferrolle dränge, tue er eines: "Erdogan professionalisiert die Isolation." (Gerald John, DER STANDARD, 17.6.2014)