Angela Merkel soll ihrem jüngeren Regierungskollegen aus Großbritannien im Streit um die Nominierung des nächsten Kommissionspräsidenten sinngemäß einen guten Rat gegeben haben: "Wenn du schon in deiner Grube sitzt, dann hör wenigstens auf, weiter zu graben!"

Denn irgendwann, wenn die meisten des Zanks müde sind, muss man aus dem Loch wieder rausklettern. Wer sich aber zu tief eingebuddelt hat, der kommt von allein nicht wieder hoch. Hätte sich David Cameron nur an den Rat von "Mutti", wie sie in Berlin spöttisch-bewundernd genannt wird, gehalten! Das hat der britische Premier aber bisher nicht getan.

Obwohl er wusste, dass die allermeisten von den 28 Staats- und Regierungschefs - und vor allem Merkel selber - sich entschieden haben, Jean-Claude Juncker, den Spitzenkandidaten der Europäischen Volkspartei (EVP), tatsächlich als Nachfolger von José Manuel Barroso zu nominieren, hat Cameron noch einmal nachgelegt. In einem Zeitungsbeitrag für die Süddeutsche Zeitung dokumentierte er vor dem Wochenende lautstark seine Ablehnung des "ungeeigneten" Luxemburgers und behauptete keck: "Juncker kandidierte nirgendwo und wurde von niemandem gewählt."

Es ist nicht überliefert, mit welchen Worten die deutsche Kanzlerin Camerons Beitrag kommentierte. Und man weiß auch nicht, was sie zum Umstand sagte, dass nur Stunden zuvor ausgerechnet die von CDU/CSU geschnittene deutsche Anti-Euro-Partei AfD von der EU-Skeptikerfraktion im Europaparlament aufgenommen wurde. Diese wird von den britischen Tories angeführt.

Gesichert ist zweierlei.

Erstens: Merkel durfte sich persönlich brüskiert fühlen. Cameron mag zwar recht haben, dass Juncker kein jugendlicher politischer Zauberer ist, der nun alle Probleme lösen wird. Man kann auch einwenden, dass die Europawahlen viele demokratiepolitische Schwächen haben, es formell gar keine "Spitzenkandidaten" gibt. Ja, die nationalen Regierungen haben bisher jedes EU-Wahlrecht blockiert - insbesondere London. Aber ebenso klar ist: Die Regierungschefs wurden nicht übergangen. Merkel persönlich hat Juncker beim EVP-Kongress in Dublin vorgeschlagen. Es gab sogar eine Kampfabstimmung mit dem Franzosen Michel Barnier, die Juncker deutlich gewann - mit Merkels Stimme.

Zweitens: Weil das so ist, war der Ofen bei der Kanzlerin nach dieser letzten Provoktion Camerons endgültig aus. Sie wurde zu Hause schon als "Betrügerin" oder Wahlfälscherin kritisiert. Und sie schaltete auf Härte um. Merkel besteht nun - nach anfänglichem Zögern und Sorge um den Verlust Großbritanniens in der EU - darauf, dass notfalls der geltende EU- Vertrag von Lissabon umgesetzt wird.

Den hat sie persönlich als EU-Ratspräsidentin 2007 verhandelt. Sprich: Sollte es beim Gipfel keine Konsenslösung in puncto Juncker geben, müssen eben die Mechanismen umgesetzt werden, die der Vertrag vorsieht. Das heißt: Abstimmung über Juncker. Bekommt er die nötige qualifizierte Mehrheit, ist er der Kandidat, der sich dem Parlament zur Wahl stellen muss. Gibt es eine blockierende Minderheit mit Cameron, muss ein neuer Kandidat her.

Dieses Vorgehen ist nur recht. Verträge macht man, damit man sich verträgt. Sie geben im Streitfall das Vorgehen vor. Das ist letztlich die letzte Chance für Cameron. Er hat zu hoch gepokert. Nun muss er sich eben überstimmen lassen - oder klein beigeben.   (Thomas Mayer, DER STANDARD, 17.6.2014)