Ex-Bundeskanzler Franz Vranitzky im Garten des Kreisky-Forums in Wien: Die EU brachte Österreichs Anbindung an den Westen.

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Drei Monate vor der Abstimmung habe es nicht gut ausgesehen, meint Vranitzky.

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Sein Zugang zur EU war vor allem ein wirtschaftlicher, sagt der "Wirtschaftskanzler".

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Der Beitritt Österreichs zur Europäischen Union Anfang 1995 sei eine ganz wichtige Etappe der Befreiung aus der Nachkriegsordnung und der Bindung an den Westen gewesen: Das ist für den langjährigen Bundeskanzler und SPÖ-Chef Franz Vranitzky der Kern der Europaintegration, die zu Beginn seiner Kanzlerschaft 1986 auf den Weg gebracht wurde.

Zum 20. Jahrestag der Volksabstimmung, die am 12. Juni 1994 eine Zweidrittelmehrheit der Bürger für den EU-Beitritt brachte, zieht Vranitzky Bilanz über diese zeitgeschichtlich äußerst spannenden Jahre, als der wegen seiner Kriegsvergangenheit umstrittene Kurt Waldheim Bundespräsident war und die kommunistischen Regime in Osteuropa und die Sowjetunion der Reihe nach zusammenbrachen.

Der Altkanzler schildert, wie schwierig es war, seine eigene Partei von der Notwendigkeit der EU-Annäherung zu überzeugen. Sein Vorvorgänger Bruno Kreisky sei nicht gegen die EU gewesen, habe aber den Vorbehalten insbesondere wegen der Neutralität nicht widersprochen. Alois Mock sei als ÖVP-Chef gerade wegen Kreiskys Querschüssen zum Außenminister geworden, erzählt Vranitzky. Später sei Mock jedenfalls für den EU-Beitritt durchs Feuer gegangen.

Den erfolgreichen Verhandlungsabschluss in Brüssel verdanke Österreich freilich nicht dem 1994 schon von seiner Krankheit geschwächten Außenminister, sondern dem damaligen Finanzminister Ferdinand Lacina von der SPÖ: "Er spielte die entscheidende Rolle, aber er ist von seiner ganzen persönlichen Veranlagung her nicht jemand, der sich an die Vorderkante der Bühne stellt und schreit: Seht her, wie gut ich war", würdigt Vranitzky seinen Ex-Finanzminister. Mock den Triumph der EU-Verhandlungen zu überlassen sei aber auch "ein Gebot der Höflichkeit und der Pietät gewesen". Für die Zukunft des Landes wünscht sich der Ex-Kanzler mehr Engagement der politischen Führungspersonen. Diese würden sich nur teilweise mit Europa beschäftigen, sie seien sozusagen "Teilzeiteuropäer", was die Skepsis der Bürger miterkläre.

STANDARD: Am 12. Juni 1994 fand die Volksabstimmung über den EU-Beitritt statt. Was war da in Ihrer Erinnerung Ihr persönlich schönstes Erlebnis?

Vranitzky: Auf keinen Fall war es business as usual. Es hat damals bis drei Monate vor dem Abstimmungstermin nicht wirklich danach ausgeschaut, als ob wir von den Wählern ein sicheres Ja bekommen. Wir haben daher in einem fast rasenden Endspurt noch alle Hebel in Bewegung gesetzt, um das zu erreichen. Da ist man 20 Stunden am Tag irgendwo in Zentralwerkstätten der ÖBB, in Ladehallen der Post, in Siloanlagen von Agrargenossenschaften oder im Fernsehen aufgetreten. Als sich dann positiv ein Ja abgezeichnet hat, war meine Grundstimmung eine außerordentlich positive. Das Gefühl der Sensation war aber schon fast überschritten. Denn in den letzten paar Tagen vor der Abstimmung habe ich schon bemerkt, da bewegt sich was.

STANDARD: Sie meinen, Richtung Zustimmung?

Vranitzky: So ist es. Am Abstimmungstag selber war ich, ohne hochmütig oder präpotent zu sein, in mir drinnen eigentlich sicher.

STANDARD: Viele wissen heute gar nicht mehr, dass die Grünen 1994 vehemente Beitrittsgegner waren, wie auch die FPÖ unter Jörg Haider bis Anfang der 1990er-Jahre noch starker Befürworter der EU und des Beitritts war. Auf der anderen Seite stand eine große Koalition mit einer großen Stimmenmehrheit. Trotzdem gab es Restzweifel?

Vranitzky: Die Meinungsumfragen waren nicht so gut. Zwei, drei Monate vorher war das nicht so klar und stabil.

STANDARD: Wenn man sich die Bilder von damals ansieht, sieht man euphorische Regierungspolitiker, wie im Rausch geradezu. Woher kam der Überschwang?

Vranitzky: Man kann das in einem größeren Zusammenhang sehen. Ich glaube, dass wir aufgrund der Neutralitätsposition und weil wir etliche Stürme an unseren Grenzen hatten - wie den Prager Frühling oder den Ungarnaufstand - vor Augen geführt bekommen haben, wie sehr wir doch am Rand Europas sitzen. Wir wurden von den Westeuropäern nicht so übermäßig ernst genommen. Mich hat zum Beispiel immer geärgert, wenn ich am Flughafen in Zürich zwischengelandet bin: Da gab es in der Halle einen Pfeil Richtung der Gates nach Westeuropa, und ein anderer Pfeil zeigte Richtung Osteuropa, Israel und Österreich. Ich habe immer gesagt, wir gehören doch nach Westeuropa. Und deswegen war das dann bei der EU-Abstimmung auch so ein großes Erwachen.

STANDARD: Ist damit für Sie eine wichtige Etappe der Nachkriegsgeschichte zu Ende gegangen?

Vranitzky: Ja, eine ganz wichtige Etappe. Das hängt auch mit all diesen typischen europäischen Verästelungen und Verwerfungen zusammen. Ich erkläre Ihnen das mit einem Beispiel. Wir hatten damals sozusagen vier verschiedene Typen von Verhandlungspartnern. Die einen waren die Nordeuropäer, Schweden, Norwegen, Finnland.

STANDARD: Die unsere Partner in der Freihandelszone Efta waren.

Vranitzky: Und die hatten sich entschlossen, den Weg in die europäische Wirtschaftsgemeinschaft zu gehen, waren ein einiger Bund von Brüdern mit uns Österreichern. Dann gab es zweitens Deutschland und in erster Linie die Person von Kanzler Helmut Kohl. Dem konnte es nicht schnell genug gehen, dass Österreich in der EG dabei ist. Wir haben aber eine Vereinbarung getroffen, dass wir dieses gegenseitige Interesse nicht an die große Glocke hängen, damit Kohl öffentlich nicht als großer Unterstützer dasteht, und um dem "Anschlussgespenst" zu entgehen.

STANDARD: Sie sagten einmal, der französische Präsident Francois Mitterrand habe Ihnen erklärt, er habe mit dem Okay zu Österreich dem Beitritt des dritten deutschen Staates zugestimmt, was Sie zurückgewiesen hätten.

Vranitzky: Mitterrand, Frankreich, das war die dritte Verhandlungsebene. Er hat sich in einem Buch mit der deutschen Frage und der Hegemonie des Deutschsprachigen beschäftigt. Da stand die ganz alte deutsch-französische Kontroverse auf, die sich später durch die Freundschaft mit Kohl eingeebnet hat. Und die vierte Verhandlungsebene war die britische Premierministerin Margaret Thatcher. Der war es fast egal, die hat mir gesagt: Okay, ihr wollt beitreten, das ist in Ordnung. Für sie war das erledigt.

STANDARD: Vielleicht, weil Thatcher sich über alles freute, was das deutsch-französische Verhältnis belastete?

Vranitzky: Möglicherweise. Sie hatte einen ganz anderen Zugang zu mitteleuropäischen Themen. Ich war einmal bei ihr in London, und sie fragte mich nach meiner Einschätzung zu Jugoslawien, damals während des Krieges. Ich habe ihr die Situation geschildert, und sie sagte: Ach, don't worry, das haben wir in Nordirland seit 1923.

STANDARD: Hat die Kriegssituation im Süden am Balkan auch dazu beigetragen, dass die Leute bei der EU-Volksabstimmung so klar Ja gesagt haben?

Vranitzky: Das könnte eine Komponente gewesen sein, das will ich nicht bestreiten.

STANDARD: Wenn man in die Zeit Ende der 1980er-Jahre zurückblickt, als der EU-Beitrittsprozess in Österreich begann, spielte die Ausländerfrage noch kaum eine Rolle. Die wurde von Jörg Haider erst mit der Zunahme der Flüchtlingswellen aus Jugoslawien politisch so richtig aufgespielt, bis zum Anti-Ausländer-Volksbegehren. Wie haben Sie das gesehen?

Vranitzky: Dieser Aspekt ist vor allem wichtig und interessant, aus einem bestimmten Grund: Ich werde oft gefragt, ob sich meine Vorstellung von der EU-Mitgliedschaft inzwischen geändert hat. Darauf sage ich Nein, man muss bedenken, welche gravierenden Veränderungen in diesen 20 Jahren vor sich gegangen sind. Wir sind einer Gemeinschaft von zwölf Ländern beigetreten damals, mit Schweden, Finnland und Österreich waren es dann 15, heute haben wir 28 EU-Mitgliedsländer. Der Fall des Eisernen Vorhangs hat sich natürlich nicht nur in einem Jahr ausgewirkt, sondern das war ein längerfristiger Prozess. Heute stellen zum Beispiel die Deutschen die größte Zahl der Gastarbeiter in Österreich.

Und dann gibt es natürlich mit dem Schengen-Abkommen den Wegfall der Grenzkontrollen. Da ist eine Öffnung vor sich gegangen, die einen Wanderungsstrom ausgelöst hat. So etwas haben wir zuletzt in Friedenszeiten in der Spätphase der Monarchie erlebt. Das alles muss man bedenken, wenn man über diese 20 Jahre spricht. Und dann sehen wir, dass das Wanderungsthema mit großem Druck auf unsere Gesellschaft verbunden ist. Wir müssen damit erfolgreich umgehen und mehrere Ziele gleichzeitig verfolgen. Wir dürfen Talente, die zu uns kommen, nicht wegstoßen, gleichzeitig dürfen wir auch auf den humanitären Aspekt nicht verzichten. Und wir dürfen das Sicherheitsbedürfnis der eigenen Bevölkerung nicht missachten. Wir müssen die Infrastrukturen entsprechend ausbauen. Das alles erfordert ungeheure Anstrengungen.

STANDARD: Sie galten nach Bruno Kreisky in den 1970er-Jahren und Fred Sinowatz als Übergangskanzler in den 1980er-Jahren als der erste wirkliche Wirtschaftskanzler. Kreisky hat das Land stark modernisiert, aber nicht an den Westen angebunden, Sie hingegen schon. Woher kam bei Ihnen diese starke Westorientierung? Die SPÖ war bezüglich der EU sehr skeptisch, als Sie 1986 Bundeskanzler wurden.

Vranitzky: Man hat mir damals manchmal den Beinamen Atlantiker gegeben, und da ist auch was dran. Mir ist durch längere Amerikaaufenthalte diese Kultur näher gestanden, als auf der anderen Seite die damaligen Strukturen in Osteuropa. Mich hat auch dieser einseitige Vergleich Österreichs mit der Schweiz geärgert, die als Vorbild hingestellt wurde. Episodisch gesagt, mich hat in einem Gespräch in Amerika einmal eine Frau gefragt, wo denn eigentlich Österreich liegt. Ich habe ihr das erklärt, mit den Bergen und so, worauf sie gesagt hat: Ach ja, das Land mit den Schweizer Bergen. Der dritte wichtige Punkt ist aber: Die österreichische Exportwirtschaft hat sich in der Comecon-Zeit gut behauptet.

STANDARD: Der Comecon war die Wirtschaftskooperation der sozialistischen Staaten unter Führung der Sowjetunion, das Gegenstück zur EU sozusagen.

Vranitzky: Nach Finnland waren wir das zweitgrößte Land mit osteuropäischen Transaktionen. Aber wir mussten uns eingestehen, dass die Qualität unserer Industrieprodukte im Osten zwar gut ankam, im Westen aber nicht so gut. Mit Osteuropa waren wir Profis beim Entwickeln von Finanzierungsmodellen. Zum Beispiel: Wir lieferten Röhren im Austausch zu Erdgas. Aber es war damals auch klar, dass in unseren Strukturen die Wettbewerbsfähigkeit auf den westeuropäischen Märkten verbessert werden musste. Diese Märkte waren viel stärker umkämpft und dort hatte man sich durchzusetzen.

STANDARD: Also Ihr Zugang zur EU war in erster Linie ein wirtschaftlicher?

Vranitzky: Ja.

STANDARD: Wie war dann der Konflikt mit Kreisky? Der hat Ihnen 1986 vorgeworfen, das Außenministerium, das seit 1970 von der SPÖ geführt worden und ein Instrument seiner Außenpolitik war, leichtfertig der ÖVP überlassen zu haben. Sie hatten damals ganz knapp gegen die ÖVP gewonnen. Also irgendein großes Ministerium musste ja abgegeben werden, wenn nicht sogar das Finanzministerium. Hing Kreiskys Groll also auch mit der Linie Richtung EU-Beitritt zusammen, und gar nicht nur mit dem Außenministerium? War Kreisky gegen den EU-Beitritt?

Vranitzky:  Wir haben die Wahl damals sogar nur sehr knapp gewonnen. Man würde Kreisky aber Unrecht tun, wenn man ihm unterstellt, ein Gegner der europäischen Integration gewesen zu sein. Das war er nicht. Allerdings waren seine großen Affinitäten doch in Richtung Schweden. Er hat immer betont, dass er in den Nahostkonflikt Vernunft einbringen will. Sein großes Credo war auch, in den ärmeren Staaten der Welt Beschäftigungspolitik wirken zu lassen, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, den Ausgleich zwischen Europa und der Dritten Welt zu fördern. In seiner langen Wirkungszeit sind diese Schwerpunkte im Vordergrund gestanden. Als ich dann begonnen habe, die Partei sorgfältig auf eine Diskussion über einen Beitritt zur europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vorzubereiten, da sind dann viele Vorbehalte gekommen. Es hieß, EWG, das ist doch Nato, das wollen wir nicht. Das stört die Neutralität, das wollen wir schon gar nicht. Einige sagten, das wäre auf kaltem Weg der Anschluss an Deutschland. Kreisky hat dem dann nicht wirklich widersprochen.

STANDARD: Kreisky hatte offenbar die Vorstellung, global wirksam werden zu wollen, aber vom kleinen, neutralen Österreich aus und nicht innerhalb der Europäischen Gemeinschaft. War das so?

Vranitzky: Eine große Bühne, die Kreisky sehr geschätzt hat, war die sozialistische Internationale. Er pflegte sehr persönliche Beziehungen zu Olof Palme und Willy Brandt. Das stand sehr im Vordergrund.

STANDARD: Wie war das dann mit Mock und dem Außenministerium?

Vranitzky: Ich muss eines vorausschicken. Als ich in die Bundesregierung eintrat, gab es noch die Koalition der SPÖ mit den Freiheitlichen. Bei gar nicht so wenigen Funktionären war – unverkennbar – in den Köpfen und in ihrer Gefühlswelt noch die Vorstellung, dass die Zeit der absoluten Mehrheiten trotzdem weiter andauert.

STANDARD: Die FPÖ wurde als Anhängsel empfunden?

Vranitzky: So in etwa. Man dachte sich, es schadet nicht, weil wir sind sowieso "die Mehreren“. Dieses Wohlgefühl ist dann bald kleiner geworden. Es kam die Verstaatlichtenkrise, die der SPÖ angelastet wurde. Es gab die Proteste gegen das Kraftwerk Hainburg, wo man der Parteispitze ein Versagen vorhielt. Die Gewerkschaften haben das fast als Verrat empfunden, als das Kraftwerk nicht gebaut wurde. So sind wir um 1985 herum etwas in die Defensive geraten. Dann wurde im Mai 1986 auch noch die Bundespräsidentenwahl verloren. Es gab den ersten nichtsozialdemokratischen Bundespräsidenten seit dem Krieg – mit all den Verwerfungen, die die Zeit von Kurt Waldheim mit sich gebracht hat. Und dazu kam ein verstärktes Hochgefühl bei Alois Mock und der ÖVP, deren Parteichef er damals war. Und dann hieß es in der ÖVP: Das nächste, war wir machen, ist, wir gewinnen den Ballhausplatz und die Kanzlerschaft.

STANDARD: Ein legitimes Ziel für eine Partei.

Vranitzky: Durchaus. Die 1986er Wahl ist auch denkbar knapp ausgegangen. Und ich habe mit Mock in den Vorgesprächen auch erörtert, welches Ressort er selber übernehmen könnte, und er sagte: Ich war schon unter Josef Klaus Unterrichtsminister, aber das Außenministerium wäre auch eine Option. Das interessiere ihn auch. Mitten in diese Nachdenkphase zwischen Mock und mir kam dann Kreisky daher mit einem Zeitungsinterview, in dem er sagte, Mock dürfe auf keinen Fall Außenminister werden. Der könne das nicht. Das hat dazu geführt, dass die Option Unterrichtsminister vom Tisch gewischt wurde und Mock darauf bestanden hat, das Außenministerium zu übernehmen. Und die eigenen Leute in der SPÖ sind dann herumgegangen und haben gesagt, der Vranitzky verschenkt das Außenministerium.

STANDARD: Kreisky hat Mock sozusagen noch eingemauert?

Vranitzky: Er hat mir danach sogar gegrollt und später sogar den Ehrenvorsitz der SPÖ zurückgelegt. Aber ich muss auch dazu sagen, es hat das nicht sehr lange gedauert. Es ist dann auch zu einem sehr von Sympathie getragenen Gespräch mit Kreisky gekommen, durch Vermittlung zweier Freunde aus dem Bezirk Landstraße.

STANDARD: Also der EU-Beitritt war kein großes Thema zwischen Ihnen?

Vranitzky: Nein.

STANDARD: Mock war zuerst gar nicht so begeistert vom EG-Beitritt, aber nach der Wahl 1986 wollte der ÖVP-Parteivorstand das in die Koalitionsverhandlungen einbringen. War Mock dann anschließend der Antreiber in Richtung EU-Beitritt von Österreich? Ist das historisch vertretbar?

Vranitzky: Ich weiß nicht, wie das in der ÖVP war und mit Mock. Aber nachdem die Volkspartei sich einmal zu diesem Weg entschlossen hatte, hatte sie in Alois Mock den besten Vorkämpfer. Mock war parteipolitisch so orientiert, dass er für einen Beschluss durchs Feuer ging, selbst wenn er in früheren Jahren gar nicht so begeistert war.

STANDARD: Es gibt da noch einen anderen zeitgeschichtlich interessanten Teil dazu im Herbst 1986, nämlich die FPÖ. Die war ja die erste österreichische Partei, die zuvor dezidiert für einen EG-Beitritt Österreichs eintrat, das im Parlament in einem Antrag auch formal verlangt hat. Und Jörg Haider wollte, nachdem er Vizekanzler Norbert Steger beim Parteitag in Innsbruck als FPÖ-Chef gestürzt hatte, die Koalition mit der SPÖ fortsetzen und Außenminister werden. Der verstorbene FP-Staatssekretär Ferrari-Brunnenfeldt hat dazu gesagt, Sie hätten das verweigert, mit Haider nicht einmal telefonieren wollen. Wie war dieser Teil der EU-Geschichte?

Vranitzky: Also, nicht einmal telefonieren wollen, das ist nicht wahr. Mein Erlebnis in diesem Zusammenhang ist: Ja, Haider war ein Befürworter eines EU-Beitritts von Österreich, aber nur so lange in der SPÖ die Weichen noch nicht in diese Richtung gestellt waren. Als das dann so war, hat es offensichtlich nicht mehr seinem Naturell entsprochen, immer noch dafür zu sein. Es gibt eine interessante Passage im Buch "In der Welt von gestern“ von Stefan Zweig, wo er schreibt: Es gibt menschliche Charaktere, die die Neigung haben, stets dagegen zu sein, ungeachtet dessen, wogegen sie sind. Hauptsache sie sind dagegen.

STANDARD: Als dann die große Koalition das Beitrittsgesuch gestellt hatte und über den EG-Beitritt verhandelt wurde, waren er und die FPÖ dagegen, das war nach seinem Sturz als Kärntner Landeshauptmann 1991.

Vranitzky: Das ist absolut richtig.

STANDARD: Zurück zum Referendum über den EU-Beitritt, was war Ihre Erwartung, was mit Österreich nach dem Beitritt passiert?

Vranitzky: Der wichtigste Parameter war die Wirtschaft, das stand an erster Stelle. Zwei Drittel unseres Außenhandelsvolumens wurde mit den zwölf EU-Staaten abgewickelt. Deswegen gab es da sogar die Meinung, dass die Verhandlungen gar nicht solange dauern würden, weil wir ohnehin stark integriert seien. Es gab aber schon das zweite Element, dass viele EU-Entscheidungen uns wohl berührt hatten, obwohl wir gar nicht Mitglied waren. Und deswegen habe ich gesagt, wenn wir schon von den EU-Entscheidungen so maßgeblich betroffen sind, dann ist es gleich besser, wir sitzen in den Entscheidungsgremien drinnen und warten nicht im Vorzimmer, was wir mit nach Hause nehmen dürfen.

STANDARD: Heute sagen aber viele, man habe Österreich damals bei den Verhandlungen an die EU verschenkt. Was sagen Sie solchen Kritikern?

Vranitzky: Da müsste man nur ein paar Monatsberichte des Wirtschaftsforschungsinstituts durchlesen, das seit Jahren immer wieder den Beweis liefert, wie sehr uns die EU-Mitgliedschaft genützt hat. Die Investitionstätigkeit wurde belebt, ein Teil unseres Wirtschaftswachstums damit bewirkt.

STANDARD: Warum sind so viele Österreicher gerade derart EU-kritisch?

Vranitzky: Der Hauptgrund für diese Europaskepsis liegt darin, dass die Regierungen nicht eindeutig, nicht klar genug Europapolitik betreiben, bis heute. Sie haben nicht verinnerlicht, dass dieses Projekt unser aller Projekt ist. Immer wieder haben sich Spitzenpolitiker nur teilweise mit Europa beschäftigt. Ich bezeichne sie als Teilzeiteuropäer. Es ist die Bevölkerung nicht gut genug mitgenommen worden auf dem Weg. Natürlich ist das Projekt mit Strukturänderungen verbunden, und das muss man als Politiker vorleben. Wenn man das nicht tut, werden diese Änderungen als Entfremdung oder Verfremdung empfunden. Europäische Spitzenpolitiker haben auch noch keinen Weg gefunden, das Funktionieren der drei Körper, der Institutionen von EU-Kommission, Parlament und Rat, so miteinander zu verbinden, dass ein europäisches politisches Produkt herauskommt, sodass es für den Großteil der Bürger interessant genug ist, um mitzugehen. Die großen Mitgliedsstaaten waren nach dem Abgang von Jaques Delors 1994 aber nicht mehr bereit, einen starken Kommissionspräsidenten zu installieren.

STANDARD: Hat Österreich seine Chancen genützt, oder sind wir zu defensiv in der EU?

Vranitzky: Mir geht auch einiges zu langsam. Ich muss aber doch auch realistisch und realpolitisch eingestehen, in den vergangenen Jahrzehnten seit Bestehen der Union sind ungeheure Fortschritte gemacht worden: die vier Freiheiten im Binnenmarkt, die gemeinsame Währung, die vielen Studienprogramme für junge Menschen und, was man nicht vergessen darf, das Vermeiden einer großen Währungskrise, die uns alle erfasst hätte, hätten wir noch unsere kleinen nationalen Währungen. Das muss man in Rechnung stellen.

Aber wenn jetzt die nächsten großen Projekte angedacht werden, mehr Demokratie in Europa und das Übertragen von Kompetenzen, dann wird es auch darum gehen, dass die europäische Aufgabe darin liegt, mit den anderen großen Blöcken in der Welt wettbewerbsfähig zu sein. Wir müssen auf Augenhöhe sein. Um das zu erreichen, müssen wir einen Teil unserer kleinen nationalen Souveränität auf eine höhere Ebene einer gemeinsamen Souveränität verlagern. Das ist für die kleinen Länder sicher nicht so einfach, da ist viel Psychologie dabei. Es geht um Identität. Aber je aktiver und offensiver die kleinen Länder für dieses System der Souveränitätsanhebung auf der höheren Ebene eintreten, umso überzeugender könnten wir für das Projekt Europa werben und es in Köpfe und Seelen der Bürger hineinbringen.

STANDARD: Hat man bei den Beitrittsverhandlungen nachträglich betrachtet nicht große Fehler gemacht, zum Beispiel nicht gesehen, dass Österreich in der EU sein System des geschützten Bereichs in der Agrarpolitik nicht aufrechterhalten kann?

Vranitzky: Natürlich ist man im Nachhinein klüger. Aber gerade bei der Landwirtschaft ist das nicht so. Das Verhandlungsergebnis, das Franz Fischler nach Hause gebracht hat, war eigentlich eines der besten. Und zwar nicht so sehr, weil er die Subventionen 1:1 aufrechterhalten hat, sondern weil er es umgelegt hat in Umweltschutzinvestitionen in der Landwirtschaft, auch in der Berglandwirtschaft. Und das ist etwas, da haben wir gut abgeschnitten.

STANDARD: In den kommenden 20 Jahren, was könnte da auf Österreich zukommen?

Vranitzky: Je mehr Mitgliedsstaaten eine Organisation wie die EU hat, umso wichtiger ist es, Allianzen zu bilden.

STANDARD: In zehn Jahren werden vielleicht die Balkanstaaten Mitglieder sein. Ist es das, wo wir uns besonders engagieren müssen, weil da ein offener Raum entsteht, wie in der Monarchie, nur ohne einen Kaiser?

Vranitzky: Diese Frage beantworte ich eindeutig mit Ja. Das ist ein politisches Feld, auf dem man die Schritte zweifellos intensivieren muss. Es ist wichtig, nicht nur ökonomisch. Es gibt einen direkten, ungehinderten Zugang zum Mittelmeer, das ist eine alte mitteleuropäische Vorgabe. Das 20. Jahrhundert in Europa war davon geprägt, dass die Nationalitäten keinen Ausweg fanden. Dann brach ein auf völliger Fehleinschätzung beruhender Krieg aus, der diese Fehleinschätzungen auf brutale Weise korrigierte. Und die Konsequenzen des Ersten Weltkriegs haben schnurstracks zum Zweiten Weltkrieg geführt. Zu einer großen Wirtschaftskrise, zu einem Aufblühen diktatorischer Systeme. Wenn man das sieht, muss man erkennen, dass die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht alle dieser Schäden beseitigen konnte.

Wir mussten bis 1989 warten, bis ein zweiter Teil Europas eine Chance bekam. Das alles sind keine kurzen Sprünge, das sind große Wellen. Gerade aus den Erkenntnissen des 20. Jahrhunderts heraus, des geteilten Kontinents, gibt es nun neue Horizonte. Wir müssen nur schauen, dass uns die wirtschaftlichen Schwierigkeiten nicht so zurückhalten, dass vielleicht ein paar Jahre gar nichts geschieht.

STANDARD: Schließen Sie aus, dass Europa scheitert?

Vranitzky: Rückfälle in nationalistisches Gehabe kann man nie ganz ausschließen. Nehmen Sie nur das Beispiel Österreich. Da gibt es viel nationalistische Wortakrobatik, aber die löst keine Probleme.

STANDARD: Zu den Beitrittsverhandlungen im März 1994 noch ein Letztes. Diesbezüglich gilt Alois Mock als der große Held von Brüssel. Nicht ganz so bekannt ist, dass er wegen seiner beginnenden Krankheit am letzten Verhandlungstag ausgefallen ist und Finanzminister Ferdinand Lacina die Gespräche erfolgreich zu Ende führte. Warum wurde das in Wien eher totgeschwiegen?

Vranitzky: Ich wusste um die alles entscheidende Rolle Lacinas, und ich wusste sie auch zu würdigen. Bis heute. Lacina selber ist von seiner ganzen persönlichen Veranlagung her nicht jemand, der sich an die Vorderkante der Bühne stellt und schreit: Seht her, wie gut ich war. Obwohl er es war. Es kommt aber etwas anderes dazu, ein innenpolitischer Touch. Niemand in der Volkspartei wäre auf die Idee gekommen, die Rolle Mocks in irgendeiner Weise zu relativieren. Und aufgrund seiner damals schon angeschlagenen Gesundheit waren das auch Gebote der Pietät und der Höflichkeit.

STANDARD: Den Durchbruch bei den Verhandlungen haben Sie persönlich bewirkt mit einem Anruf beim französischen Präsidenten Mitterrand, als nur noch die Frage des Transitvertrags offen war. Da gab es in Brüssel die berühmte Szene, dass Verkehrsminister Viktor Klima mit fahlem Gesicht an der Wand stand und nicht mehr weiterwusste. Denn er wollte nicht nachgeben, einer Kürzung des Zeitraums nicht zustimmen, wie Frankreich das verlangte. Der Wiener Finanzstadtrat Mayr sagte zu ihm den legendären Satz "Scheiß di ned an, Vickerl, des moch ma schon", und rief Sie an. Wie war das dann im entscheidenden Moment mit Mitterrand?

Vranitzky: Ich kann mich an das erinnern. Mitterrand hat gesagt, er brauche nicht eine zweite Schweiz. Sein Argument war, wenn der Nord-Süd-Verkehr an der Schweiz anstößt, dann wird er abgelenkt und geht dann nach Frankreich. Und so kriegen sie in Frankreich dann den ganzen Lkw-Verkehr. Ich habe dann zu ihm gesagt: Sehen Sie, und das Gleiche spielt sich dann bei uns in Österreich ab. Und da hat er dann gesagt, so habe er das noch nicht bedacht, so habe man ihm das noch nicht gesagt. Und das war dann der Durchbruch.

STANDARD: Sie waren mehr als zehn Jahre lang Bundeskanzler. Was war für Sie das Wichtigste Ihrer Amtszeit?

Vranitzky: Das Wichtigste gibt es gar nicht. Es ist auch schwierig, sich selbst zu beurteilen. Es waren mehrere Veränderungen im Verlauf unseres politischen Geschehens. Es begann einmal damit, dass ich schon als Finanzminister konfrontiert war mit der Restrukturierung der österreichischen Schwerindustrie. Grasser hat sich viel später immer gerühmt für die Privatisierungen. Aber ich war es in der 1980erJahren, der mit Lacina und Rudolf Streicher begonnen hat, unsere Unternehmen überhaupt fit zu machen für kommende Börsengänge. Das war sicher wichtig.

Über Europa, die EU und den Beitritt haben wir jetzt gerade schon viel geredet, das war ein wichtiger Aspekt. Und dann war für mich die Herstellung geordneter und normaler Verhältnisse zum Staat Israel auch ein wichtiger Aspekt. Das war durch meine Rede im Parlament, mit der wir von der Opfertheorie wegkamen, wonach Österreich nur ein Opfer des Nationalsozialismus gewesen sei. Und ein wichtiger Aspekt war auch, dass das Kunst- und Kulturschaffen, das schon seit Kreisky in einer Blüte war, von mir verstärkt gefördert wurde. Das ist vielleicht heute nicht mehr so stark ausgeprägt. Die Öffnung für Leute wie Claus Peymann am Burgtheater oder Hermann Nitsch. Das sind schon Aspekte, die mir sehr wichtig waren und die sich zu einem Ganzen fügen. (Thomas Mayer, Langfassung, DER STANDARD, 11.6.2014)