Der deutsche Soziologe Ulrich Beck hat vor anderthalb Jahren in einem Interview den Regierungsstil der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel die "Methode Merkiavelli" genannt: eine Verbindung der eigenen Machtpolitik mit jener vom Typ Niccolò Machiavellis, des florentinischen Staatsphilosophen (1469-1527), die ohne moralische Bedenken die eigene Macht und das Eigeninteresse als Ziel sieht. Eines der charakteristischen Merkmale der Machtpolitik Merkels sei ihre Neigung "zum Nicht-Handeln, Noch-nicht-Handeln, Später-Handeln, zum Zögern". Auch ihr Biograf Nikolaus Blome schrieb über die "Zauderkünstlerin", die abwartet, die den "Zustand der Schwebe" liebt.

Seinen Vorwurf des "Merkiavellismus", des "machtpokernden Jeins", bezog damals Beck auf die Eurokrise, und ähnlich sieht auch der Leitartikler des Londoner "Economist" ("The perils of Merkelvellianism") die risikoscheue Undeutlichkeit Merkels im europaweiten Feilschen um das Amt des Kommissionspräsidenten und um die Führungspositionen der EU. Nicht nur die wohl einflussreichste Wochenzeitung, sondern auch die gesamte britische Presse lehnt Jean-Claude Juncker, den klaren Gewinner der Europawahl, geradezu leidenschaftlich als einen zu proeuropäisch engagierten Kandidaten für die Führung der EU-Kommission ab.

Beim europaweiten Feilschen um die Neuaufteilung der EU-Positionen geht es freilich auch um die sich abzeichnende Machtverschiebung zugunsten des EU-Parlaments und zulasten des Rates der Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten. Der Vertrag von Lissabon (in Kraft seit Dezember 2009) wollte das EU-Parlament aufwerten. Er legt fest, dass das Ergebnis der Europawahl bei der Bestimmung des Kommissionspräsidenten berücksichtigt werden muss. Vordergründig handelt es sich also um die Wahl zwischen der Bestätigung des von manchen Schlüsselpartnern abgelehnten, aber selbst von seinem Rivalen, dem Sozialdemokraten Martin Schulz, anerkannten Wahlsiegers und einer Verfassungskrise als Folge der Auflehnung des neugewählten EU-Parlaments gegen die vom britischen Premier David Cameron angezettelte Demontage des christdemokratischen Wahlsiegers.

Merkel, die Zentralfigur der außenpolitischen Entscheidungen, will sich wieder einmal alles offenhalten - von der Haltung gegenüber dem russischen Aggressor in der Ukraine bis zu den politischen und personellen Entscheidungen über die Zukunft der EU. Die christdemokratische Kanzlerin ist zwar im Zentrum der Entscheidungsbildung, aber sie spielt paradoxerweise mit so vielen Unbekannten in ihrer hochriskanten Rechnung, dass sich das scheinbar raffinierte Abservieren des eigenen christdemokratischen Kandidaten als ein Bumerangeffekt gegen ihren Ruf der Unfehlbarkeit erweisen könnte.

Sie scheint die aufgeladene Stimmung der Öffentlichkeit und der Medien in Deutschland hinsichtlich der Solidarität mit Juncker und die politischen Folgen ihrer halbherzigen Unterstützung für den eigenen Kandidaten aus der christdemokratischen Familie falsch eingeschätzt zu haben. Es geht nicht nur um das Schicksal Junckers, sondern bereits um den Preis, den Angela Merkel für ihren schweren politischen Fehler zahlen muss. (Paul Lendvai, DER STANDARD, 10.6.2014)