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Präsident Hollande in Caen.

Foto: APA/EPA

Caen ist modern. Zu modern. Die Straßen im Zentrum sind zu breit, die Gebäude zu ähnlich. Nur in der Rue Saint-Pierre nehmen sich zwei schiefe Riegelhäuser davon aus. Plötzlich macht es "klick": Diese zwei Häuser müssen die einzigen gewesen sein, die in der Altstadt stehengeblieben sind, im Sommer 1944. Die Vorstellungskraft hat Mühe zu folgen.

Serge Lemière war damals zehn. Am Morgen des 6. Juni hörte er Donnergrollen von den zehn Kilometer entfernten Stränden. Um die Mittagszeit kündigte US-General Dwight D. Eisenhower im Radio die Operation Overlord an: die Landung der Alliierten, die Europa vom Nazi-Joch befreien sollten. Eine Stunde später explodierten die erste Bomben in Caen. "Die sind für uns", sagte Lemières Vater. Die Familie flüchtete sich unter den Tisch. Das Haus stürzte ein. "Zum Glück war es ein Leichtbau", erinnert sich Serge, "nur meine Schwester wurde verletzt."

Um 16.30 Uhr flogen die Bomber die zweite Welle. Panik. "Wir schrien 'Vater unser', aber wir verstanden uns selbst nicht mehr, so laut waren die Explosionen", erinnert sich Geneviève Delarocque, damals 17. So erlebte die noch heute in Caen Wohnhafte den D-Day, der ihrer Stadt Tod und Zerstörung brachte.

Die Alliierten schossen - wie man heute weiß - 73 Prozent von Caen in Schutt und Asche. Der Marschplan hatte die Einnahme der Stadt noch am Tag der Landung vorgesehen, doch erobert wurde sie erst Wochen später.

"Durch einen Vorhang sah ich einen deutschen Soldaten am Brunnen", erzählt Delarocque. "Plötzlich rannte er wie verrückt davon. Eine Minute später rollten kanadische Panzer auf den Platz." Die junge Frau sprang auf einen drauf und erhielt vom Soldaten ein Päckchen US-Zigaretten - sie hat sie bis heute nicht geöffnet.

Durch die Bomben des D-Day und danach starben in Caen 3000 Einwohner. Bei den D-Day-Feiern 1994 und 2004 gedachte ihrer aber niemand: Die Dankbarkeit gegenüber den Alliierten macht diese dunkle Stunde für die Normandiestadt zu einem "non-dit" - zu einem Trauma, über das man nicht spricht. Sogar die Bombardierung von Städten wie Dresden wurde unter französischen Historikern mehr diskutiert.

Heuer, nach 70 Jahren, gedachte erstmals ein französischer Präsident bei einer D-Day-Feier der zivilen Opfer von Caen. François Hollande erbrachte ihnen - bevor er an der Küste die hohen Staatsgäste empfing - im Weltkriegsmemorial von Caen eine "nationale Hommage": Die Einwohner von Caen hätten "sich geopfert" für die Befreiung des Kontinents.

Eher im Gegenteil: Sie wurden geopfert. Militärhistoriker hinterfragen noch heute den Grund für die intensive Bombardierung. Die 21. Panzerdivision der Wehrmacht befand sich im Juni 1944 nicht in Caen, sondern im Norden davon. Zerbombt wurde die Stadt trotzdem - von den Amerikanern flächendeckend, von den Briten dann sehr präzise. Allein in der Klinik Miséricorde starben 160 Kriegsversehrte. Niemand, auch Präsident Hollande nicht, behauptete am Freitag, Caen habe ein nutzloses Opfer erbracht.

Der Vorstoß ins Landesinnere war für die alliierten Soldaten noch mörderischer als die Landung. Selbst der britische Premier Winston Churchill zuckte wegen der Zahl der zivilen Toten zusammen und fragte den französischen Widerstandschef Charles de Gaulle, was er dazu meine. Der blieb aber hart: Das sei tragisch, aber so sei der Krieg.

70 Jahre später feierte Caen den D-Day wie die übrige Normandie, die aus dem "Weltkriegstourismus" ein lukratives Geschäft gemacht hat. Immerhin: Den Feuerwerken an den Stränden wollte sich die Regionalhauptstadt nicht anschließen. Caen feiert etwas zurückhaltender. Das Plakat der lokalen Gedenkstätte zeigt ein ernst blickendes junges Mädchen. Daneben der Slogan: "Wir sind alle 70." Will sagen: "Wir sind alle Kinder des D-Day." Wie auch Barack Obama, Queen Elizabeth II und alle anderen am Freitag sagten. Und auch die, die den 6. Juni 1944 nicht überlebten. (Stefan Brändle aus Caen, DER STANDARD, 7.6.2014)