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Urumqi, 23. Mai 2014: Polizisten sperren nach dem Anschlag auf dem Gemüsemarkt eine Straße

Foto: REUTERS/Petar Kujundzic

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Peking, 29. Mai 2014: Polizisten üben Einsatztaktiken für Demonstrationen

Foto: REUTERS/China Daily

derStandard.at: In den 90er-Jahren startete die chinesische Regierung ihre "Den Westen entwickeln"-Kampagne. Durch Großinvestitionen in Infrastrukturprojekte sollte die wirtschaftliche Entwicklung angetrieben werden. Sind Erfolge zu beobachten?

Clarke: Die massiven Investitionen haben messbares Wirtschaftswachstum bewirkt - 2013 lag dieses in Xinjiang bei 10,8 Prozent. Ein guter Teil der Finanzmittel fließt allerdings in große Infrastrukturprojekte wie Schnellstraßen, neue Eisenbahnstrecken und den Ausbau der Telekommunikation sowie in die Rohstoffindustrie wie zum Beispiel die Erschließung von Ölvorkommen.

derStandard.at: Haben sich die Lebensbedingungen der uigurischen Bevölkerung in der Provinz dadurch verändert?

Clarke: Es gibt ein paar problematische Entwicklungen: Han-Chinesen erhalten den Großteil der Arbeitsplätze in den neuen Industriebetrieben, Großprojekte fördern den Zuzug weiterer Han-Chinesen. Auch viele Wanderarbeiter, die zu Großbaustellen anreisen, stammen aus dieser Bevölkerungsgruppe. Die Städte in der Region wachsen schnell, wodurch sich die Demografie vor allem im Norden der Region verändert.

Die uigurische Bevölkerung Xinjiangs, die schlechter ausgebildet ist und von der viele kein Mandarin sprechen, lebt großteils auf dem Land, wo vom Wirtschaftswachstum wenig zu spüren ist. Das fördert den Eindruck, durch den Zuzug von Han-Chinesen marginalisiert zu werden.

derStandard.at: Bei den gewalttätigen Ausschreitungen des Jahres 2009 starben in Xinjiang fast 200 Menschen. Was hat sich seither verändert?

Clarke: Obwohl die Kommunistische Partei nach den Unruhen 2009 Reformen ankündigte, hat sich wenig getan. Man hat lediglich die Hauptpfeiler der bisherigen Politik verstärkt: staatlich gesteuerte Entwicklung, verschärfte Kontrolle der religiösen und kulturellen Praktiken der Uiguren und anderer Minderheiten, Unterdrückung und Bestrafung, wenn jemand offen seine Unzufriedenheit zeigt.

derStandard.at: Laut einem dem US-finanzierten Senders Radio Free Asia erfolgte der Anschlag auf den Marktplatz wenige Tage nachdem die Polizei das Feuer auf eine Demonstration eröffnete. Die Demonstranten verlangten die Freilassung mehrere Mädchen, die gegen das Kopftuchverbot verstoßen hatten. Es gibt Berichte, denen zufolge Kinder nicht in Moscheen mitgenommen werden dürfen, Bartträgern werden angeblich Kredite oder Arbeitsplätze verwehrt. Fördert diese Politik die Radikalisierung der Uiguren?

Clarke: Zhang Chuxian, der KP-Chef von Xinjiang, hat erklärt, religiöser Extremismus sei die Ursache des Terrorismus in der Provinz. Diese Beispiele zeigen, dass sehr wohl auch die Politik der Regierung Widerstand hervorruft.

derStandard.at: Bei dem Anschlag auf dem Pekinger Tiananmen-Platz im Oktober 2013 starben die drei Attentäter und zwei Passanten. Der Angriff auf den Bahnhof in Urumqi im April dieses Jahres kostete zwei Attentäter das Leben, ein Zivilist starb. Wie passen diese offenbar nicht besonders sorgfältig geplanten Operationen zu den Angaben der chinesischen Regierung, etwa hundert Uiguren hätten in Syrien Trainingscamps für Terroristen besucht?

Clarke: Diese beiden Anschläge waren, wenn man die Opferzahlen betrachtet, wirklich nicht besonders effizient. Allerdings gab es auch den Angriff auf den Gemüsemarkt, bei dem 43 Menschen starben, und am 1. März einen Anschlag in Kunming mit 29 Todesopfern. Diese jüngsten Anschläge zeigen, dass die Angreifer ihre Operationen immer effizienter planen und versuchen, durch Attacken auf öffentliche Plätze wie den Tiananmen, Bahnhöfe und Marktplätze möglichst viele Opfer zu verursachen, statt wie früher Repräsentanten des Staates wie Polizisten und Regierungsbeamte anzugreifen.

derStandard.at: Die Behörden werfen der Islamischen Partei Turkestans (TIP) vor, den Anschlag auf dem Gemüsemarkt in Urumqi verübt zu haben. Die Organisation soll aus der in Pakistan beheimateten Muslimbewegung Ostturkestans (ETIM) hervorgegangen sein. Was ist über diese Gruppen bekannt?

Clarke: Man weiß nur wenig über diese Organisationen. Sie operierten jedenfalls von den Stammesgebieten an der pakistanisch-afghanischen Grenze aus. Die ETIM, der die chinesische Regierung in einem Dokument aus dem Jahr 2002 die Hauptschuld an den Terroranschlägen in Xinjiang zuwies, bestand von 1997/98 bis in die frühen 2000er-Jahre.

Ihr Anführer Hasan Mahsum starb 2003 bei einer Operation der pakistanischen Armee in Südwaziristan, wenig später entstand die TIP. Der pakistanische Analytiker Muhammad Amir Rana nimmt an, dass die TIP eine radikale Splittergruppe der ETIM ist.

derStandard.at: Wie finanzieren sie sich, wer versorgt sie mit Waffen?

Clarke: Über die Kapazitäten der Gruppe ist wenig bekannt. Sie dürfte über 200 bis 400 Kämpfer in den Stammesgebieten verfügen. Dass sie wirklich Operationen in Xinjiang durchgeführt haben, ist unsicher, aber auch nicht auszuschließen. Die Gruppe finanziert sich wie die pakistanischen Taliban durch illegale Geschäfte wie Schmuggel und Drogenhandel. China behauptet, sie erhalte Geld von Al-Kaida, aber dafür gibt es kaum Beweise.

derStandard.at: Der pakistanische Geheimdienst ISI hat die Taliban unterstützt, bevor sie in Afghanistan die Macht übernahmen. Gibt es hier Verbindungen?

Clarke: Angesichts des Rufes, den sich der ISI erworben hat, kann man diese Möglichkeit nicht ausschließen. Es ist aber schwer vorstellbar, dass Pakistan riskiert, dadurch seine langjährigen Beziehungen zu China zu gefährden, weil sich auch das Verhältnis zu den USA und zu Indien verschlechtert hat. Man darf nicht vergessen, dass es die Pakistaner waren, die 2003 den ETIM-Anführer Mahsum töteten, und sie haben das auch stolz den Chinesen berichtet.

derStandard.at: Gibt es Hinweise auf eine Zusammenarbeit mit Jihadisten-Gruppen außerhalb Chinas?

Clarke: Das Bild, das sich uns bietet, ist bestenfalls verschwommen. Es ist in Einzelfällen belegt, dass die TIP Beziehungen zur Islamischen Bewegung Usbekistans (IMU) pflegt, die vor allem in den ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens wie Usbekistan, Tadschikistan und Kirgisien aktiv ist. Es gibt Berichte über kirgisische Mitglieder der IMU, die nach Syrien gereist sind, um sich am Jihad zu beteiligen, also wäre es denkbar, dass Uiguren den gleichen Weg genommen haben. Aber das ist kaum belegt.

derStandard.at: Laut Angaben der chinesischen Behörden wurden im Rahmen der Anti-Terror-Operation in Xinjiang mehr als 200 Sprengsätze beschlagnahmt und mehr als 200 Verdächtige festgenommen. Ihnen wird vorgeworfen, durch Onlinevideos und in Chaträumen Kenntnisse über den Bau improvisierter Bomben erworben zu haben. Was ist über diese Webseiten bekannt? Beobachten westliche Geheimdienste solche Aktivitäten?

Clarke: Die TIP ist im Internet sehr aktiv und betreibt mit Al-Alawi sogar eine "Nachrichtenagentur", die Videos verbreitet. Mehrere private US-Organisationen wie IntelcenterSmall Wars Journal und die  Jamestown Foundation beobachten solche Aktivitäten in Zentralasien, Pakistan und Afghanistan. Für die chinesischen Behörden ist die leichte Verfügbarkeit solcher Inhalte eine der Hauptursachen für die Gewalt in den Uiguren-Gebieten.

derStandard.at: Nach dem Anschlag auf den Gemüsemarkt in Urumqi verlangte Xinjiangs Parteichef Zhang Chunxian, die Terroristen müssten sich künftig so verfolgt fühlen, als seien sie "auf der Straße laufende Ratten, bei deren Anblick alle schreien: Erschlagt sie!", und rief gleichzeitig auf, "lokale Traditionen mit Respekt zu behandeln". Ein vielversprechender Ansatz?

Clarke: Ich würde sagen, dass das eine das andere ausschließt. Viele Uiguren haben den Eindruck, dass der Staat örtliche Traditionen eben nicht mit Respekt behandelt, wie das Beispiel mit dem Kopftuchverbot zeigt.

Der nun angekündigte einjährige Anti-Terror-Einsatz wird die Möglichkeiten der Uiguren, auf legalem Weg ihre Unzufriedenheit mit der staatlichen Politik zu zeigen, weiter einschränken. Ich befürchte, dass das zu weiterer Radikalisierung und einer Eskalation der Gewalt in Xinjiang und vielleicht sogar außerhalb der Provinz führen wird. (Bert Eder, derStandard.at, 4.6.2014)