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Machtkampf zwischen SPD und CDU.

Foto: AP/Logghe

"Angela Merkel ist bereit, David Cameron zu isolieren, damit Jean-Claude Juncker Präsident der EU-Kommission werden kann." Das schreibt Jean Quatremer, der Europakorrespondent der französischen Tageszeitung Libération in seinem jüngsten Blogeintrag zur Causa prima in Brüssel. Die Hoffnung des britischen Premierministers, dass die deutsche Kanzlerin davor zurückschrecken könnte ihn zurückzuweisen aus der Sorge heraus, dass Großbritannien nicht an Bord der Europäischen Union bleiben könnte, und dass sie deshalb am Ende einen anderen Kompromisskandidaten akzeptieren werde, sei enttäuscht worden.

Quatremers Analysen haben in Brüssel, vor allem aber in Frankreich Gewicht. Als Beobachter der europäischen Politik seit 25 Jahren in der EU-Hauptstadt, Buchautor, Filmemacher und ewiges „enfant terribles“ gegenüber den Mächtigen in der Union, hat er Erfahrung und Einblick wie kaum ein zweiter Beobachter. Mehr als hunderttausend Leser aus ganz Europa folgen täglich seinem Blog.

Druck der deutschen Öffentlichkeit

Sein Urteil darüber, wie es nach den EU-Wahlen mit der Bestellung der künftigen EU-Kommission und vor allem mit dem Spitzenkandidaten der europäischen Christdemokraten – dem früheren luxemburgischen Premierminister Juncker – weitergehen wird, wird auch im Elysée, dem Sitz des französischen Staatspräsidenten Francois Hollande, mit Aufmerksamkeit verfolgt.

Und das scheint nach einer der spannendsten politischen Wochen seit Jahrzehnten in der Union im Anschluss an die Europawahlen am 25. Mai relativ klar: Nicht zuletzt unter dem Druck der deutschen Öffentlichkeit habe die Kanzlerin zwischen der Demokratie einerseits und den britischen Drohungen andererseits eine Entscheidung getroffen: für Juncker.

Schulz will in die EU-Kommission

Für STANDARD-Leser nicht überraschend. Wie an dieser Stelle am Wochenende dargelegt, hatte Merkel seit dem EU-Gipfel und dem Treffen der Parteichefs von Europas Christdemokraten (EVP) in der Frage der Nominierung des Kommissionschefs zwar nach Kräften laviert. Sie lehnte den Zeitdruck, der durch die Erklärung des Europäischen Parlaments auf sofortige Nominierung Junckers entstanden war, aus Prinzip ab. So etwas ist der deutschen Kanzlerin – einer begnadeten Machtpolitikerin – von Natur aus zuwider. Aber sie hat sich auf der anderen Seite nie aktiv gegen Juncker ausgesprochen, sondern vielmehr versucht Zeit zu gewinnen, um den britischen Premierminister doch noch an Bord zu holen.

Daneben gab es aber noch ein zweites Hauptmotiv zur Vollbremsung, und das hat nach STANDARD-Recherchen weniger mit Juncker, viel mehr aber mit dem gemeinsamen Spitzenkandidaten von Europas Sozialdemokraten, EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, zu tun. Er möchte nach der Wahlniederlage im Sog einer Wahl von Juncker zum Kommissionspräsidenten zumindest sein zweites Traumziel erreichen – und als Vizepräsident und erster Stellvertreter des Präsidenten ebenfalls in die EU-Kommission einziehen.

CDU würde Anspruch verlieren

Merkel, die deutsche Kanzlerin und Parteichefin der CDU, will das aber um jeden Preis verhindern. Denn würde Schulz Kommissionsvizepräsident, dann bedeutet das zwingend, dass die CDU den Anspruch auf einen Kommissarsposten in Brüssel verlieren würde. Seit der Reform des EU-Vertrages von Nizza ist es nämlich so, dass jedes EU-Land nur mehr Anrecht auf einen Kommissar hat, auch das größte und mächtigste Mitgliedsland mit 80 Millionen Einwohnern.

Dieser Aspekt ist in der Schlacht zwischen Cameron, Merkel und den anderen Regierungschefs um Juncker etwas untergegangen. Mehrere Quellen berichten aber glaubhaft, dass Merkels Vollbremsung beim Luxemburger unter anderem genau damit zu tun hat, dass die Kanzlerin Sorge hatte, vom Juncker-Zug mit Schulz an Bord überfahren zu werden.

Die SPD-Spitzen mit Vizekanzler Siegmar Gabriel taten das ihre dazu, indem sie den Druck auf die Kanzlerin zu einer raschen Entscheidung im Rat der Regierungschefs von Anfang an forcierten.

Halsstarrigkeit der SPE

Was war nun der Hintergrund für diese Merkel-Volten in Zusammenhang mit Juncker/Schulz? In der Tat hatte es in der Wahlnacht des Sonntag zunächst überhaupt nicht danach ausgesehen, dass es so bald eine rasche Entscheidung der Regierungschefs über die Wahl des Kommissionschefs geben könnte. Ganz im Gegenteil. Schulz hatte noch um Mitternacht, als der Wahlsieg der EVP und Junckers sehr wahrscheinlich schien, keinerlei Anstalten gemacht, seine Niederlage einzugestehen und für Juncker als Kommissionschef einzutreten. Er zweifelte die kolportierten Ergebnisse an, kündigte seinerseits an, selber eine Mehrheit im Europaparlament zur Bildung einer Kommission suchen zu wollen.

Die Halsstarrigkeit des Spitzenkandidaten der SPD in Deutschland und der SPE auf EU-Ebene hatte zu einiger Irritation geführt. Umso mehr mussten die Regierungschefs – und Merkel – glauben, dass der geplante EU-Gipfel zwei Tage nach der Wahl quasi eine lockere Aussprache ohne Entscheidungslage werden müsste.

Treffen in den frühen Morgenstunden

Was ihnen und der Öffentlichkeit aber entging war ein Treffen zwischen Juncker und Schulz noch in den frühen Morgenstunden des Montag. Dabei hatte Schulz erstmals signalisiert, dass er sich mit dem Wahlsieg Junckers abfinden könnte. Und er sagte schon da klar, was er sich für den Fall der Bildung einer großen Koalition von Christdemokraten und Sozialdemokraten wünschen würde: nämlich Vizepräsident, Stellvertreter Junckers in einer politisch sehr starken Kommission zu werden. Die Geschäftsordnung  der Behörde sieht das genau so vor. Auch wenn es mehrere Vizepräsidenten gibt, gibt es nur einen einzigen Stellvertreter des Präsidenten, der die Sitzung leitet, wenn er abwesend ist. Bei José Manuel Barroso ist das Viviane Reding.

Diese Rolle würde Schulz gerne spielen, von der SPD in Berlin unterstützt, die mit Merkel in einer großen Koalition regiert. Von der Zuständigkeit her könnte er zum Beispiel für Industriepolitik verantwortlich sein, oder ein anderes  wichtiges Dossier.

Merkel, so scheint es, wollte diese Pläne mit ihrer Weigerung, beim EU-Gipfel rasch eine Entscheidung über Juncker herbeizuführen, durchkreuzen. Da das Augenmerk der Medien ganz auf die Blockadedrohung Camerons gegenüber Juncker gerichtet war, fiel das auch nicht weiter auf. Die Kanzlerin beabsichtigt jedenfalls, für die nächsten fünf Jahre weiterhin einen CDU-Politiker als (einzigen) deutschen Kommissar nach Brüssel zu schicken. Ob Energiekommissar Günther Oettinger bleibt oder der CDU-Spitzenkandidat David McAllister in die Ziehung kommt, ist unklar.

Schulz bleibt möglicherweise EU-Parlamentspräsident

Zurück zu Schulz. Geht es nach den Plänen Merkels, dann wäre die politischen Spitzenkarriere des EU-Parlamentspräsidenten im Juli beendet. Als EU-„Außenminister“ und Nachfolger von Catherine Ashton wäre er für die EU-Partner mangels diplomatischer Erfahrung kaum akzeptabel. Aber auch Ständiger Präsident des Europäischen Rates der Regierungschefs könnte er kaum werden, da Schulz selber nie Minister oder Regierungschef war.

Die Sozialdemokraten in den Regierungen wollen es freilich nicht hinnehmen, dass ausgerechnet Schulz, der sich als Parlamentspräsident und „Erfinder“ des Systems der Wahl-Spitzenkandidaten aus ihrer Sicht so große Verdienste um die Demokratie auf EU-Ebene erworben hat, nun in der Versenkung verschwindet. Sollte es mit dem Vizepräsidenten der Kommission wegen des Widerstandes Merkels nicht klappen, dann könnte Schulz unter Umständen einfach im Amt des EU-Parlamentspräsidenten bleiben – mindestens bis 2017, wenn nicht für fünf Jahre der Legislaturperiode.

Juncker selber soll das dem Vernehmen nach Recht sein. Die Christdemokraten könnten dies eintauschen mit dem Posten des Außenbeauftragten für den polnischen Außenministers Radoslaw Sikorski (was nebenbei  auch die zehn osteuropäischen EU-Staaten milde stimmen würde, wichtig, wenn es um Mehrheiten beim EU-Gipfel geht).

Die dänische Premierministerin Helle Thornig-Schmidt, eine Sozialdemokratin, könnte dann Präsidentin des Rates nach Herman van Rompuy werden.

Vergabe nicht nach Vernunft und Qualifikation

Um auch die „Südländer“ ins Boot des Personalpakets zu holen, müssten auch diese einen Spitzenposten bekommen. Zwei Namen kursieren in Brüssel: Frankreichs Ex-Finanzminister Pierre Moscovici, ein Sozialist, den Präsident Hollande gleich auch als Kommissionschef und Alternative zu Juncker ins Spiel brachte. Und der konservative spanische Finanzminister Luis De Guindos, dem Merkel das bereits avisiert haben soll: Einer von beiden könnte 2015 Eurogruppenchef Jeroen Dijsselbloem als Chef der Eurogruppe ablösen.

Das wäre, sagen Insider, eine rationale Lösung im Ausgleich aller Länder und Parteiinteressen. Aber: Die Vergangenheit hat gezeigt, dass EU-Spitzenposten in den seltensten Fällen nach Vernunft und Qualifikation vergeben werden, so wie es auch 2009 mit Barroso, Ashton und van Rompuy gewesen ist. Am Umstand, ob Juncker in drei Wochen beim EU-Gipfel nominiert wird oder nicht, wird man ablesen können, wie es diesmal läuft, wie das große EU-Personalpaket und dann das Arbeitsprogramm der Union bis 2019 ausfallen wird, das vom gewählten EU-Kommissionspräsidenten ab Mitte Juli konzipiert werden wird. (Thomas Mayer, derStandard.at, 3.6.2014)