Die Diva und ihr Nervenwrack: Irina Arkadina (Christiane von Poelnitz) und Boris Trigorin  (Michael Maertens) in "Die Möwe".

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Wien - In Anton Tschechows Die Möwe verspürt ein unerfahrener Dichter den Wunsch, die ganze Welt mit einem Kunststück in Erstaunen zu versetzen. Trepljow (Daniel Sträßer), so heißt der blasse Draufgänger mit dem dünnen Scheitel, hat Pech. Die Zuschauer, die für ihn infrage kommen, sind Provinzler. Die Frau Mama (Christiane von Poelnitz) ist Schauspielerin. Jeden Sommer verbringt sie auf dem Landgut ihres greisen Bruders Sorin (Ignaz Kirchner), um Trepljows Sohnesliebe mit Allüre zu ersticken.

Im Wiener Akademietheater gesellen sich noch andere Umstände hinzu, die dem Vorhaben des Jünglings abträglich sind. Die Möwe ist dasjenige Stück Tschechows, in dem der Glaube an die Macht der Kunst vom Autor, einem praktizierenden Mediziner, mit ruhiger Geste abgetan wird. Wer meint, er könne sein Leben durch Ausübung einer der schönen Künste sanieren, ist naiv, im Grunde gefährlich. Trepljow, obzwar mittellos, wird den fürchterlichsten Bankrott machen. Das Mädchen, das er liebt, wird sich einem gerissenen Novellendichter an den Hals werfen.

Ein derart fragiles Flugobjekt wie Die Möwe, von Tschechow als Komödie bezeichnet, kann auch in falsche Hände geraten. Es sind Regie-Hände wie diejenigen Jan Bosses, die das Stück, das sie gekonnt zu kneten meinen, kaputt drücken. Bosse quetscht an der Möwe herum. Sie soll komisch wirken. Als vertraue er Tschechows geduldiger Diagnose nicht, lässt er hinter jeden Satz ein Ausrufezeichen setzen.

Bosse wünscht sogar, dass seinen Figuren heimgeleuchtet werde. Jeder Zuschauer hat vor Beginn der Aufführung ein kleines rotes Lämpchen in die Hand gedrückt bekommen. Nina (Aenne Schwarz) ist das holde Mädchen aus der Nachbarschaft, das in Trepljows Dramolett den Weltgeist gibt. Die Wiener Besucher sollen auf Kommando die starrenden Augen des Höllenfürsten per Knopfdruck erzeugen.

Super-GAU im Kunstnebel

Die Aufführung beginnt mit den Anstalten, die der Jüngling für seine Sommersoiree trifft. Nina sieht nun leider aus (Kostüme: Kathrin Plath), als wäre sie von erbosten Leibeigenen zwar nicht geteert, aber gefedert worden. Kirchner, das Onkel-Faktotum, das den Hosenbund zirka in Halshöhe trägt, zupft genäschig am angepickten Mädchenflaum herum. Bereits der erste Akt missrät fürchterlich. Die Vorführung des Dramoletts ist der zu erwartende Super-GAU. Die Arkadina und ihr kleiner Hofstaat haben im Parkett Platz genommen, und in den Schwaden des Trockeneisnebels gehen Weltgeist/Möwe und auch alle übrigen Ambitionen flöten.

Der Urheber der gescheiterten Sommerbelustigung erklimmt die Bühne. Sträßer muss nun coram publico alles das rezitieren, was ihm Tschechow am Eingang des Aktes als vertrauliche Bemerkung dem Onkel gegenüber in den Mund gelegt hat. Es schmerzt, dass man am Burgtheater offenbar die Kunst verlernt hat, die Stücke aufmerksam zu lesen.

Bosse hat ohnehin anderes zu tun. Die wunderbare von Poelnitz trägt einen ganzen Kleiderkasten voller Boutiquenstücke auf. Anstatt um die Aufmerksamkeit ihres Liebhabers Trigorin (Michael Maertens) zu ringen, liebäugelt sie mit dem Publikum. Sie legt einen Spagat hin, dass man um das Heil der Dame fürchtet. Die ganze Welt ist, zufolge eines barocken Missverständnisses, für Bosse Bühne. Nun ist aber Tschechow eben kein Calderón, die arme Arkadina keine Mae West des Ostens.

Trigorin (Maertens), der Novellendichter, darf in seiner Lederjacke den Mädchenverführer als manövrierfähiges Nervenwrack vorführen. Wenn ihm die Liebe der Arkadina zu viel wird, flüchtet er in Migräne. Die Faszination, die er auf Nina ausübt, bleibt, wie so vieles in dieser Aufführung, schleierhaft.

Es ist nicht so, dass es in einer von allen guten Tschechow-Geistern verlassenen Möwe wie dieser nicht auch ein paar erfüllte Augenblicke gäbe. Ausstatter Stéphane Laimé hängt Fotoausschnitte der Feuermauer wie Prospekttafeln auf die Bühne. Man zeigt, dass man zeigt. Die kleinen Heiligenlegenden dieses Stückes bleiben jedoch weitgehend unangetastet.

So vieles, was Thema wäre in Doktor Tschechows nach klarer Landluft riechendem Ordinationszimmer, bleibt unerzählt. Die Figuren spielen im vierten Akt mit ihren eigenen Foto-Doubles um die Wette. Über eine Stellprobe gelangt die Aufführung in solchen Augenblicken nicht hinaus.

Trepljows Selbstmord verhallt ungehört. Das Vögelchen Hoffnung ist abgestürzt. Trotz vereinzelter "Bravo"-Rufe blieb die Aufnahme des Abends unverbindlich höflich. Aber man hatte ja auch Wichtigeres zu tun, als über die Zerrüttung des Lebens durch die Kunst nachzudenken. Man zeigte statt der Möwe ein Präparat. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 2.6.2014)