Zu viele Patienten, zu wenig fachgerechte Versorgung - vor allem in ländlichen Gebieten.

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Dass milde psychische Erkrankungen unverhältnismäßig viel Aufmerksamkeit bekommen, ist keinesfalls neu: Bereits Mitte des 18. Jahrhunderts gehörte es quasi zum guten Ton, einen kleinen Spleen zu haben. Heutzutage ist es die umstrittene Burnout-Diagnose, die öffentlich diskutiert wird.

Oft wird dabei übersehen, dass unter den psychisch Kranken vor allem die schwerwiegenden Fälle drastisch unterversorgt sind, solange sie nicht privat zusatzversichert sind. Wer etwa ambulante Hilfe sucht, möglicherweise gar in einer suizidalen Krise steckt, dem sollte innerhalb von Stunden geholfen werden, maximal Tagen. In vielen Teilen Österreichs dauert es Monate, bis Patienten ein Erstgespräch bekommen. Doch wer ohne weiteres so lange auf einen Therapieplatz warten kann, ist nicht wirklich krank.

Aufnahmestopp für Patienten

Die ambulante psychiatrische Versorgung ist je nach Bundesland unterschiedlich entwickelt, doch bis auf wenige Ausnahmen durchwegs unzureichend: In Salzburg etwa sehen sich viele niedergelassene Kassenpsychiater regelmäßig dazu gezwungen, streckenweise überhaupt keine neuen Patienten aufzunehmen - allein, um ihnen keine Wartezeiten von über zwei Monaten zumuten zu müssen.

Auch in Tirol kann es laut Auskunft der dortigen Ärztekammer bis zu sechs Monate dauern, ehe Patienten einen Termin für ein Erstgespräch bekommen.

Viele weichen daher auf öffentliche Krankenhäuser aus, die jedoch ihrerseits überlastet sind. Allein die psychiatrische Ambulanz an der Klinik Innsbruck behandelte im Jahr 2012 fast 3000 neue Patienten. Nicht einmal die privatordinierenden Wahlärzte können den Andrang an Patienten im Raum Innsbruck abdecken: Auch bei ihnen sind Wartezeiten von bis zu sechs Wochen üblich.

Einzig in Vorarlberg meldet die Ärztekammer keine akuten Probleme bei der ambulanten psychiatrischen Versorgung.

Zu viele Privatordinationen

"Eine unserer Achillesfersen ist der Umstand, dass wir zwar relativ viele privatordinierende Psychiater haben, aber im Vergleich dazu viel zu wenige niedergelassene Ärzte mit Kassenvertrag", sagt Georg Psota, Leiter des Psychosozialen Dienstes Wien. Tatsächlich arbeiten laut Ärztekostenstatistik von 2012 in ganz Österreich lediglich 156 Kassenpsychiater. Auf einen ordinierenden Psychiater mti Kassenvertrag kommen also im Schnitt knapp 55.000 Einwohner. Damit weist Österreich im OECD-Vergleich mit die geringste Dichte an Fachärzten auf.

Ganz besonders drastisch zeigt sich die Mangelversorgung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie: Im Burgenland, in der Steiermark und Salzburg gibt es in diesem Bereich noch immer keine einzige Kassenstelle, ganz österreichweit sind es gerade einmal 13. Zum Vergleich: In Deutschland ordinieren rund 450 Kinderpsychiater, allein das Bundesland Niedersachsen hat bei einer leicht geringeren Einwohnerzahl als Österreich sechsmal so viele Kassenstellen wie hierzulande.

Hausärzte verschreiben Psychopharmaka

Dies hängt auch damit zusammen, dass in kaum einem anderen EU-Land die psychiatrische Versorgung zu einem ähnlich großen Teil von Allgemeinmedizinern übernommen wird. Insbesondere im ländlichen Raum, wo der nächste Psychiater oftmals mehr als 100 Kilometer entfernt ordinieren kann, weichen Patienten verstärkt auf Hausärzte aus.

Sie sind es auch, die für die Mehrheit der Diagnosen psychischer Erkrankungen verantwortlich sind. So ergab etwa eine Studie der Gebietskrankenkasse Salzburg von 2012, dass über zwei Drittel aller Psychopharmaka von Allgemeinmedizinern verschrieben werden.

Ob dies per se ein Problem ist, darüber gibt es geteilte Ansichten. "Dass die Leute in einer schweren Krise den Hausarzt aufsuchen, ist schon okay - Hauptsache sie haben jemanden, den sie aufsuchen können", sagt Psota. Allerdings sei das psychiatrische Know-how derzeit in der allgemeinmedizinischen Ausbildung noch zu wenig verankert. Dies könnte sich jedoch mit der kommenden Ausbildungsordnung ändern.

Doch es gibt Kritik an der Auslagerung der psychiatrischen Versorgung an die Allgemeinmedizin: "Auch wenn praktische Ärzte bei der Versorgung psychisch Kranker sehr engagiert sind, verschreiben sie aus meiner Sicht relativ schnell schwere Psychopharmaka und empfehlen nicht eine vorangehende fachärztliche Abklärung, wie es sein sollte", sagt Andrea Prokop-Zischka, Vorstandsmitglied der Gesellschaft kritischer PsychologInnen (GkPP).

Krasser Mangel

Die Anzahl an niedergelassenen Fachärzten steht in jedem Fall in keinem Verhältnis zum tatsächlichen medizinischen Bedarf: Pro Jahr verschreiben allein die Gebietskrankenkassen Psychopharmaka an rund zehn Prozent der Bevölkerung.

Rund 70.000 Österreicher werden stationär behandelt, etwa 80.000 melden sich aufgrund psychischer Leiden arbeitsunfähig. An Schizophrenie etwa erkrankt rund ein Prozent der Gesellschaft, also ähnlich viele Menschen wie an Diabetes Typ I.

"Es ist in den letzten Jahren nicht gelungen zu vermitteln, dass psychische Erkrankungen eine gleiche Wertigkeit besitzen wie Herzkreislauferkrankungen", sagt Gabriele Fischer vom Zentrum für Public Health an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie. Fischer sitzt ebenfalls seit 15 Jahren im Beratungsgremium des Gesundheitsministers.

Handlungsbedarf bekannt

Natürlich sei allen politischen Entscheidungsträgern das Ausmaß der Problematik längst bekannt. Letztlich fehle es den Betroffenen, darunter vielen Mittellosen und Migranten, schlicht an einer gesellschaftlichen Lobby.

Und wenn es um Einsparungen im Gesundheitsbereich geht, sagt GkPP-Vertreterin Prokop-Zischka, sind oftmals die Schwerkranken betroffen, "vor allem im psychischen Bereich". (Fabian Kretschmer, DER STANDARD, 27.5.2014)