Ursula Hensel (53) ist Betriebswirtin und seit 1997 Geschäftsführerin der Multiple-Sklerose- Gesellschaft Wien.

Foto: standard/cremer

Ursula Hensel leitet seit 1997 die Patientenorganisation Multiple-Sklerose-Gesellschaft Wien. Anlässlich des Welt-MS-Tags am Mittwoch erklärt sie, mit welchen Problemen MS-Patienten konfrontiert sind und wie sie damit umgehen können.

STANDARD: Wie geht es Patienten und Patientinnen mit multipler Sklerose  in Österreich?

Hensel: MS ist eine Erkrankung, die in sehr jungen Jahren auftritt und individuell unterschiedliche Verläufe nimmt. Ein Charakteristikum ist, dass MS in mehr oder weniger starken Schüben verläuft. Das Problem ist, dass sich diese Verläufe kaum vorhersagen lassen. Wer die Diagnose bekommt, muss damit leben lernen. Das ist nicht einfach - in jedem Fall eine psychische Herausforderung.

STANDARD: Wie ist die medizinische Versorgung?

Hensel: Die medizinische Versorgung ist in Österreich sehr gut. In den letzten Jahren haben sich an den neurologischen Abteilungen der meisten Spitäler MS-Ambulanzen etabliert. Wer dort behandelt wird, kann sicher sein, von Spezialisten nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen therapiert zu werden.

STANDARD: In den letzten Jahren sind einige neue Medikamente vorgestellt worden, die ins Immunsystem von Patienten eingreifen. Wie gut wird aufgeklärt?

Hensel: Ziel der immunmodulierenden Medikamente ist es, die Entzündungen im Körper und damit das Fortschreiten der MS zu verhindern. Mittlerweile gibt es schon eine Reihe von Therapien dafür, und die Aufgabe des behandelnden Arztes ist es, mit den Patienten ein optimales Behandlungsschema zu finden. MS-Patienten sind allgemein gut informiert. Genaue Aufklärung über die Therapie ist Aufgabe des behandelnden Arztes.

STANDARD: Was, wenn die Arzt-Patienten-Beziehung nicht optimal ist?

Hensel: Wenn über eine Behandlungsmethode nicht ausreichend aufgeklärt wird, verstärkt sich die Unsicherheit. MS ist eine chronische Erkrankung, die Therapie eine Langzeitbehandlung. Sie erfordert Ausdauer. Infusionen und Spritzen, zum Teil mit grippeähnlichen Nebenwirkungen, können belastend sein. Vor allem haben diese Therapien ja keine unmittelbar spürbare positive Wirkung. Eine unserer Aufgaben ist es, Betroffene zu unterstützen, die Erkrankung annehmen zu lernen und damit bestmöglich zurechtzukommen.

STANDARD: Was hat sich in den letzten Jahren medizinisch verbessert?

Hensel: Neben Interferon und Glatirameracetat sind weitere immunmodulierende Medikamente als Optionen dazugekommen, die laut Studien bessere Ergebnisse hinsichtlich der Schubreduktion und der Behinderungsprogression erzielen. Dafür gibt es bei diesen Therapien potenziell aber mehr Risiken. Es gibt Patienten, die Vorbehalte gegen immunmodulierende Therapien haben - die Mehrheit lässt sich aber darauf ein. Leider sind diese Medikamente nur bei der schubförmigen MS zugelassen. Die primär und sekundär chronisch progredienten Formen der MS sind derzeit medikamentös noch nicht gut beeinflussbar. Daran wird geforscht. Um diese Gruppe von Betroffenen kümmern wir uns ganz besonders.

STANDARD: Wie machen Sie das?

Hensel: Multiple Sklerose hat immer auch eine sehr starke psychische Komponente. Die Multiple-Sklerose-Gesellschaft hat zwei Psychotherapeutinnen angestellt, die Betroffene unterstützen. Vor allem unmittelbar nach der Diagnose, aber auch nach Schüben brauchen Patienten Rückhalt.

STANDARD: Bekommen MS-Patienten die knapper werdenden Ressourcen im Gesundheitssystem zu spüren?

Hensel: Bei Medikamenten bisher zum Glück nicht. Es zeigt sich aber in anderen Bereichen, dass die Kostenträger zu sparen beginnen - etwa bei der Rehabilitation und bei Physiotherapie. Gerade das sind aber Maßnahmen, die vielen helfen, sich ihre Beweglichkeit zu erhalten. Wir sehen, dass solche Behandlungen, die einen Status quo bewahren, leider nur mehr reduziert genehmigt werden.

STANDARD: MS wird aber oft noch mit der Gefahr eines Lebens im Rollstuhl assoziiert. Zu Unrecht?

Hensel: Ja, denn es gibt viele Betroffene, die keinen Rollstuhl benötigen. Bei sehr schweren Verläufen, das sind fünf Prozent, kann das aber der Fall sein. MS ist eine Krankheit, die nicht nur Betroffene, sondern auch Familie und Freunde betrifft. Gerade deshalb ist auch die Sozialberatung der MS-Gesellschaft eine Säule in der Patientenbetreuung. Integration und den Alltag weiter leben sind wichtig. Dabei helfen wir.

STANDARD: Wie erreichen Sie die MS-Betroffenen?

Hensel: Zwei- bis dreimal im Jahr veranstalten wir Patiententage mit Expertenvorträgen. Durchschnittlich nehmen 250 Leute daran teil. Bei besonders interessanten Themen wie etwa neuen Therapien oder Komplementärmedizin kommen 500 Teilnehmer und mehr.

STANDARD: Gibt es abseits der Schulmedizin Angebote?

Hensel: Viele MS-Patienten wollen wissen, was sie über die Behandlung hinaus machen können. Ernährung, Bewegung, Akupunktur und Feldenkrais sind Themen. Es gibt aber auch Alternativtherapien, von denen die Schulmedizin aufgrund gefährlicher Nebenwirkungen klar abrät. Beispiele dafür sind die Bienengifttherapie oder Darmreinigungstherapien.

STANDARD: Wie offen gehen Betroffene mit MS um?

Hensel: Unterschiedlich, aber zu Beginn der Erkrankung eher nicht offen. Die meisten haben Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Wie gesagt: Nicht jede MS verläuft schwer, viele Patienten führen ein normales Leben und sind verlässliche Arbeitskräfte, die auch nicht öfter krank sind als Menschen ohne MS. Doch das Vorurteil sitzt fest. Eines unserer Projekte ist, durch Aufklärung der Unternehmer ein Umdenken zu erreichen. (Karin Pollack, DER STANDARD, 28.5.2014)