Am College habe eine Polizeibeamtin den Studentinnen eingeschärft, "Feuer!“ zu rufen, wenn sie fürchten, von einem Mann angegriffen zu werden, lässt Carrie K. wissen. Ansonsten würden die Leute nicht reagieren. Mädchen hätten früh gelernt, dass es besser sei, einem Jungen eine falsche Telefonnummer zu geben, statt ihn abblitzen zu lassen, meldet sich eine Twitter-Nutzerin namens Karen Tuttle zu Wort. Soraya Chemaly wiederum schildert ihre Erfahrungen am Beispiel gemeinsamer Spaziergänge mit ihrem Ehemann. Bitte er sie, langsamer zu laufen, "dann begreife ich, dass er sein Leben nicht damit verbracht hat, Belästigungen auf der Straße aus dem Weg zu gehen“.
Der Amoklauf in der Pazifikgemeinde Isla Vista gießt nicht nur Öl ins Feuer der amerikanischen Waffendebatte. Er löst auch einen intensiven Diskurs über Gleichberechtigung, über männliche Privilegien und Doppelmoral aus, maßgeblich geführt in sozialen Netzwerken, etwa im Kurznachrichtendienst Twitter.
Hashtag #YesAllWomen
Bevor er drei Menschen erstach, drei Menschen erschoss und 13 weitere verletzte, hatte Elliot Rodger, ein mental kranker Student, ein verstörendes Manifest zirkulieren lassen. Darin enthalten waren Hasstiraden gegen Kommilitoninnen, denen er seine Überlegenheit beweisen werde: "Ich weiß nicht, warum ihr Girls nichts von mir wissen wollt, aber ich werde euch alle dafür bestrafen.“ Inzwischen sind es allein in den Vereinigten Staaten mehrere Tausend Mädchen und Frauen, die sich unter dem Hashtag #YesAllWomen ihren Frust von der Seele schreiben.
Alle Frauen, soll der Titel signalisieren, machten ähnliche Erfahrungen mit einer Gesellschaft, die männliche Aggressivität eher toleriert, während sie dem "schwachen Geschlecht“ deutlich strengere Regeln vorschreibt. "Man hat mir gesagt, zieh dies nicht an, zieh jenes nicht an, die Jungs werden dich anstarren“, klagt eine Kalifornierin. "Aber wann hat man meinem Bruder gesagt, er solle die Mädchen nicht so anstarren?“
In psychologischer Behandlung
Der Waffendiskurs wiederum lässt, man kann es kaum anders sagen, eine gewisse Ratlosigkeit erkennen. Schon als Adam Lanza, ein geistig verwirrter 20-Jähriger, im Dezember 2012 in einer Grundschule in der idyllischen Kleinstadt Newtown ein Blutbad anrichtete, hatte das Land um die Versäumnisse, die Möglichkeiten und Grenzen psychischer Behandlung gestritten.
Elliot Rodger indes wurde tatsächlich von Seelendoktoren betreut, einer von ihnen alarmierte umgehend die geschiedenen Eltern des Todesschützen, als er wenige Stunden vor der Tat eine E-Mail mit Rodgers schockierendem Pamphlet in seinem elektronischen Postfach entdeckte. Doch nach allem, was bis jetzt bekannt ist, gab es keine rechtliche Handhabe, den 22-Jährigen am legalen Erwerb dreier Pistolen zu hindern. Sein Name tauchte in keinem Vorstrafenregister auf, sodass bei den vorgeschriebenen Personaldatenchecks im Waffengeschäft kein rotes Lämpchen aufleuchtete. Und da Rodger im Beisein eines Psychologen nie jemanden konkret bedrohte und potenzielle Opfer nie beim Namen nannte, war kein Psychologe verpflichtet, ihn den Behörden zu melden.
Eltern verständigten Polizei im April
Einmal, Ende April, waren die Ordnungshüter nah dran, da fürchtete er, dass seine Mordpläne aufgedeckt würden. Verständigt von seinen Eltern, die sich Sorgen machten wegen der Gewaltfantasien in seinen Videos, suchten ihn zwei Polizisten in seiner Studentenbude auf. "Sobald ich die Cops sah, überkam mich die größte Angst, die ich je in meinem Leben spürte“, räumte er in seinem Manifest ein. "Hätten die Polizisten mein Zimmer durchsucht, hätten sie all meine Waffen gefunden, neben allen Schriften über das, was ich vorhatte.“
Weil Rodger höflich geantwortet habe und bei klarem Verstand zu sein schien, habe man es bei der Routinebefragung belassen, verteidigt Bill Brown, der Sheriff des zuständigen Verwaltungsbezirks Santa Barbara, die Entscheidung. Natürlich wünsche er sich, dass er die Uhrzeiger noch einmal zurückdrehen könnte. (Frank Herrmann aus Washington, derStandard.at, 26.5.2014)