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Marine Le Pen hat allen Grund zur Freude.

Foto: REUTERS/Christian Hartmann

Die Plakate waren schon vorbereitet worden: "Front National - erste Partei Frankreichs!" und andere Slogans klebten Parteimitglieder am Wahlabend noch schnell an die Wand, bevor Marine Le Pen ans Rednerpult trat. "Die Franzosen wollen nicht mehr von außen regiert werden!", donnerte die Parteichefin und gelobte, für die "Grandeur" der Nation zu kämpfen. Dann verschwand die 46-jährige Populistin zur Parteifeier in die "Élysée Lounge", einen Nachtklub unweit des Élysée-Palastes - dort, wo sie nach den Präsidentschaftswahlen 2017 einziehen will.

Am Sonntagabend ist sie diesem ehrgeizigen Ziel einen großen Schritt näher gekommen: 25 Prozent der Stimmen hat sie erhalten. In Nordfrankreich erzielte der rechtsextreme Front National (FN) 34 Prozent, im Osten 29 Prozent. "Nichts wird in Frankreich wie vorher sein", meint der Politologe Jérôme Fourquet.

Staatspräsident François Hollande forderte in einer Ansprache am Montagabend eine Umorientierung Europas weg vom Sparkurs in Richtung "Wachstum, Beschäftigung und Investitionen". Er werde das bereits am Dienstag beim EU-Gipfel in Brüssel ansprechen.

Politischer "Big Bang"

EU-Wahlen werden in Frankreich stets dazu benützt, um die jeweilige Regierung abzustrafen; bei nationalen Wahlen überlegen es sich die Bürger normalerweise etwas besser. Und doch hat Frankreich am Sonntagabend einen politischen "Big Bang" erlebt, wie Le Parisien schreibt.

Der Front National wird wohl 24 Euroabgeordnete nach Brüssel und Straßburg entsenden - das ist mehr als die bürgerliche UMP oder Hollandes regierende Parti Socialiste (PS). 43 Prozent der Arbeiter, 38 Prozent der Beamten und 37 Prozent der Arbeitslosen wählten nach ersten Erkenntnissen dieses Mal "extrême droite" - also rechtsextrem. Das sind mehr als bloß ein paar wankelmütige Protestwähler, die es den anderen "zeigen" wollen.

Erster Sieg für Familie Le Pen

Erstmals haben Frankreichs Rechtspopulisten eine landesweite Wahl gewonnen, und erstmals seit Gründung der Partei im Jahre 1972 wird das Undenkbare denkbar: ein Sieg eines Vertreters der Familie Le Pen bei den Präsidentschaftswahlen.

Der Dammbruch ist politisch, gesellschaftlich, aber vor allem mental: Noch vor zwei oder drei Jahren hätte sich kaum ein Franzose als FN-Wähler geoutet - doch jetzt stehen plötzlich viele zu ihrem Votum für die einstige Schmuddelpartei des Gründervaters Jean-Marie Le Pen. Der hatte noch vergangene Woche geätzt, die Bevölkerungsexplosion in Afrika lasse sich ganz einfach durch das Ebola-Virus "innerhalb von drei Monaten regeln".

Kein Land in der Europäischen Union hat eine so klare Unterscheidung zwischen den "republikanischen" Parteien und den Rechtsextremen vorgenommen. Diese Trennung entspricht sehr dem französischen Denkmuster: Schon General Charles de Gaulle hatte das Vichy-Regime des Zweiten Weltkrieges schlicht als "Klammer" aus der glorreichen Geschichte Frankreichs entfernt.

Gleichermaßen steht der hehre Anspruch der selbst erklärten Menschenrechtsnation über dem profanen Wählerverhalten des einzelnen Bürgers; kulturelle Grandeur, Haute Couture und Savoir-vivre werden nicht beeinträchtigt durch Banlieue-Gewalt, Tausende von Obdachlosen und Millionen von Armen und Analphabeten im Land. Am Sonntag versuchte ein Élysée-Berater diese Trennwand zum FN noch aufrechtzuerhalten und erklärte: "Das Wahlresultat entspricht nicht der Rolle Frankreichs, seinem Image, seiner Ambition."

"Europameister der extremen Rechten"

Doch der Damm ist gebrochen, die Trennwand endgültig gefallen. "Frankreich ist Europameister der extremen Rechten" titelte das linke Onlineportal Rue89 voller Scham. Bräche man das EU-Ergebnis auf die ehrwürdige Nationalversammlung (Parlament) um, so kämen dort die Frontisten mit 25 Prozent auf 144 Abgeordnete.

Tatsächlich haben sie wegen des Mehrheitswahlrechtes nur zwei Abgeordnete. Doch die Fiktion einer politischen Landschaft ohne FN wird sich nicht länger aufrechterhalten lassen. Marine Le Pen wird nicht nur auf der politischen Bildfläche Frankreichs bleiben - nein: Sie dominiert sie, scheint's, schon fast nach Belieben. (Stefan Brändle aus Paris, DER STANDARD, 27.5.2014)