Die Aufregung davor, die Atemlosigkeit im Moment des Kontakts, das Aussetzen jeglicher rationaler Gedankenströme wenn es passiert: Physikalisch gesehen falsch, doch ein Kuss vermag die Zeit anzuhalten.
Vielleicht nicht, wenn man wie Edward Gibbon den sanften Druck auf ein Lippenpaar als "die anatomische Nebeneinanderstellung von zwei Ringmuskeln im Zustand der Kontraktion" betrachtet. Aber schon eher, wenn man Willy Meurers Worte dabei im Kopf behält: "Lächeln ist das Zweitschönste, was der Mensch mit seinen Lippen tun kann."
Die Simulation
Die Welt ist ein fantastischer Ort, wenn ein und dieselbe Sache mit so unterschiedlichen Augen gesehen werden kann. Und fantastischer ist sie, wenn man über etwas so Bewegendes, Bedeutungsvolles oder auch Enttäuschendes herzhaft Lachen kann.
Der kostenlose "Realistic Kissing Simulator" wird keinen besseren Küsser aus Ihnen machen, aber sie zumindest schmunzelnd über diesen komplexen Prozess reflektieren lassen. Er umfasst das volle Programm: Händchenhalten, die Annäherung und natürlich den Akt selbst.
Zu zweit geht es besser
Man kann es allein versuchen, doch wie im realen Leben ist es ein Spiel, das für zwei Personen erfunden wurde. Jeder der Partner steuert eine unübersehbar große Zunge und versucht sie mit der des Gegenübers zu vereinen. Kein leichtes Unterfangen, bei dem schon einmal ein Augapfel unabsichtlich benetzt und die Nasenlöcher inspiziert werden oder sich die Muskelstränge ineinander verknoten. Nicht so schlimm, schreiben manche Mediziner dem freiwilligen Speichelaustausch doch eine Abwehrkräfte stärkende Wirkung zu. Und um auf eine Ebene zu kommen, benötigt es durchaus auch taktiles Geschick. Oder wie Mark Twain es formulieren würde: "Ein Kuß ist eine Sache, für die man beide Hände braucht."
Lerneffekt
Eine transzendente Erfahrung darf man sich beim Anblick dieses wenig sinnlich illustrierten Gebalges nicht erhoffen. Erotikpragmatikern wie Giacomo Girolamo Casanova wird es hingegen leichter fallen, das plastelinartige Schauspiel nachzuvollziehen. "Das Küssen ist ein Ausdruck der Fresslust, darauf gerichtet, das Objekt zu verschlingen."
Ein gespielter Nonsense, der aber zumindest eines bewirkt: Über ein "Lippenbekenntnis" nachzudenken. Und wer sein Ziel nun klarer, nein, schärfer denn je vor Augen hat, dem seien für das nächste Rendezvous Goethes Worte in den Mund gelegt: "Küss mich, sonst küss ich dich!" (Zsolt Wilhelm, derStandard.at, 26.5.2014)