Wien - Über einer Front aus Glas läuft die rote Digitalschrift der Gottverlassenen. Menschen in aller Welt teilen miteinander die Einsamkeit in den Chatrooms. Stavanger (Pulp People) nennt sich eine szenische Installation, die Regisseur Konstantin Bogomolov zusammen mit dem Liepajas teatris (Lettland) hergestellt hat.
Ein schmaler Wohnküchenschlauch wird zur Besichtigung freigegeben. Das nackte Elend tritt unverblümt zutage. Man muss nur die Augen aufsperren in der Halle G des Wiener Museumsquartiers. Mitunter will man seinen Augen auch gar nicht trauen.
Jüngere Menschen beiderlei Geschlechts versitzen ihre Lebenszeit. Kein besonderes Vorkommnis reißt diese Fortschrittsverlierer aus ihrer Agonie. Die Gesellschaft der baltischen Länder, so lernt der Festwochen-Besucher, zeichnet sich durch Phlegma aus. Man scheut sich, dieses gesund zu nennen. Verabredungen trifft man, um sich Ice Age 4 im Kino anzusehen. Doch der künstlerische Ertrag, so ist zu hören, sei gering: Das Eichhörnchen habe schlecht gespielt.
Frohsinn im Ohr
Der Einzige, der sich in Stavanger zu Tode arbeiten muss, ist der Simultanübersetzer aus dem Lettischen. Er flötet einem fröhlich die größten Ungeheuerlichkeiten in das mit einem Funkempfänger hochgerüstete Ohr. Kristina, die junge Frau mit dem dünnen langen Haar, muss ihren bettlägerigen Schwiegervater pflegen. Ihr Gemahl, der seinen Intimbereich mit dem Spray auf Vordermann bringt, ist Taxilenker. Weil es das Schicksal gut mit ihm meint, lernt er eine zauberhaft schöne Flugbegleiterin kennen.
Deren Besonderheit besteht darin, unentwegt mit Flugzeugen abzustürzen, ohne dabei Schaden zu nehmen. Manche der völlig emotionslos abgewickelten Dialoge wären einer Slapstick-Komödie würdig. Bogomolov (39), der sehr erfolgreich am Moskauer Künstlertheater arbeitet, erdrosselt das Stück lieber, bevor es Luft schöpfen kann (die Fabel stammt von Marina Krapivina). Diese ethisch bedenkliche Haltung übt eine faszinierende Wirkung aus.
Man ist in Lettland, im Folgenden auch in Norwegen zu Gast. Man nimmt am Geschick dieser traurigen und zugleich dämlichen Figuren herzlich Anteil. Man möchte die Wohnzeile mit ihrer scheußlichen Streifentapete um keinen Preis der Welt verlassen. Kristina hat es besser. Sie hat "Odd" (Otto) im Internet kennengelernt. Odd haust in Stavanger. Dort möchte "Kika" um jeden Preis hin. Sollen doch die anderen derweil den kranken Schwiegervater pflegen. Kristina weiß, was sie ihrem Gastgeber schuldig ist. Sie lässt sich "I love Norway" über ihre Vagina tätowieren.
Es fällt schwer zu entscheiden, ob Kristinas Reise in den hohen Norden als Fehlschlag anzusehen ist. Immerhin muss sie die Glasbox nicht verlassen. In Bogomolovs Theater wird die Globalisierung auf diskretem Niveau realisiert. Die Menschen sehen einander überall auf der Welt irgendwie ähnlich. Der Smalltalk ist international. Sprechblasen platzen, heraus kommen Sätze wie: "Rumficker wittere ich auf hundert Meter Entfernung!" Die Menschen begegnen einander auch in Stavanger auf Augenhöhe. Wollen sie einander geschlechtlich beiwohnen, zückt er einen Schlagbohrer, und sie hält ihr Geschlecht in die Höhe. Es ist ein simples Holzbrett.
Das Pathos der Zweisamkeit ist in die Welt der Baumärkte abgewandert. Und während es in der Kloschüssel wetterleuchtet und der alte Schwiegervater mit Kot um sich wirft, genießen Kinder mit Entwicklungsstörungen Heroinbrei als Ersatznahrung. Es hätte alles schlimmer kommen können. Eine brillante Vorstellung, leider schon aus. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 26.5.2014)