Der Endspurt zu den EU-Wahlen am 25. Mai hat nicht klargemacht, was alles auf dem Spiel steht, auch wenn die Kandidaten wichtige wirtschaftliche, politische, moralische und kulturelle Themen angesprochen haben. Immer noch herrschen Mehrdeutigkeiten in beiden großen Lagern. Befürworter eines bundesstaatlichen "großen Sprungs vorwärts" mit stärkeren gemeinsamen Institutionen stellen den Populismus als den Hauptfeind Europas dar. Sie scheinen zu glauben, dass "rationalere" Institutionen genügen würden, die Strukturkrisen zu überwinden, in die die EU seit dem Platzen der Spekulationsblase 2008 geraten ist, ohne dass die politischen Grundsätze oder die inneren Kräfteverhältnisse geändert werden müssten.

Auf der anderen Seite stehen die Kritiker der europäischen Konstruktion an sich. Sie sehen sie als eine Art Kriegsgerät, mit dessen Hilfe die neoliberale Globalisierung Wohlfahrt und öffentliche Ordnung des Kontinents abbaut. Sie werden oft von nationalistischen Diskursen über Souveränität unterwandert, die die Illusion einer möglichen Rückkehr zu obsoleten "geschützten Grenzen" nähren und Formen von Xenophobie Vorschub leisten.

In dieser Situation ist es für Idee einer neuen Grundlegung bzw. Gründung (refondation) Europas auf revolutionärer Basis schwierig, in glaubwürdiger Weise zu entstehen – auf der Basis von Solidarität, wirtschaftlicher und politischer Entwicklung seiner Völker und der Fähigkeit, die Richtung der Globalisierung zu ändern.

Enthaltung auch keine Wahl

Warum ist das so? Mehrere Gründe wären zu nennen. Einige haben mit der Tatsache zu tun, dass die europäischen Bürger nicht wirklich davon überzeugt sind, dass die Wahlen ihnen eine tatsächliche Macht geben, die in Brüssel beschlossene Politik zu beeinflussen (von verfassungsgebender Macht gar nicht zu reden), und das trotz der Tatsache, dass das europäische Parlament nun das letzte Wort bei der Ernennung des Kommissionspräsidenten hat. Dazu kommt, dass die politischen Eliten die Debatten auf das Terrain der traditionellen Alternative einengen, die eine Sackgasse ist: Entweder man ist für ein Europa des "freien und ungestörten Wettbewerbs" oder man will zurück zu "souveränen Nationen". Zudem tendieren die neuen Kräfte der "bottom-up"-zivilen Gesellschaft dazu, sich selbst zu zerstören oder vom System aufgesaugt zu werden.

Ich sage daher nicht, dass die Wahlmöglichkeiten klar und offensichtlich sind; natürlich ist Enthaltung auch keine Wahl oder höchstens eine zugunsten der anti-europäischen Positionen, wie sie von den Rechtsextremen massiv vertreten werden. Vielleicht darf ich das mit meinen eigenen Schwankungen illustrieren. Ich denke, sie zeigen das Spektrum an Möglichkeiten, die ein europäischer Bürger hat, wenn er oder sie aufgrund der Erfahrungen der letzten Jahre zu zwei gleich starken Überzeugungen gekommen ist: dass man gegen eine Austeritätspolitik, die dabei ist, das europäische soziale und kulturelle Modell zu zerstören, nur innerhalb Europa selbst Widerstand leisten kann; dass es aber aus denselben Gründen nicht möglich ist, "business as usual" zu betreiben und das politische Projekt Europa zu befürworten, ohne für ein anderes Europa zu kämpfen, ja für  seine komplette Neuerrichtung.

Am Scheideweg

In den letzten Wochen habe ich drei Erklärungen unterstützt. Die erste ("Wählt Europa"), wurde von der Allianz Kulturstiftung in Deutschland in Umlauf gebracht und war durch Ulrich Becks Kritik  "Das deutsche Europa" angeregt worden; Jürgen Habermas, Zygmunt Bauman, Mary Kaldor, Saskia Sassen, Edgar Morin und andere hatten sie ebenfalls befürwortet. Sie beharrt insbesondere auf der Dringlichkeit der Wahlen und auf der Notwendigkeit, die europäischen Institutionen radikal zu demokratisieren. Sie stellt die Wahl, die vor uns liegt, dar als eine zwischen David Camerons "weniger Europa" und Martin Schulz’s "anderer Art von Europa", in dem die öffentlichen Gelder nicht dazu benützt würden, das Bankensystem zu stabilisieren, sondern dazu, das Problem der Arbeitslosigkeit der jungen Menschen in Angriff zu nehmen. Das läuft auf eine implizite Unterstützung der Kandidatur von Schulz hinaus.

Die zweite Erklärung ("L’Europa al bivio", Europa am Scheideweg) wurde von einer Gruppe italienischer Intellektueller, angeführt von Barbara Spinelli, herausgebracht, die Alexis Tsipras als Kommissionspräsidenten unterstützt und sich für unabhängige Listen der Zivilgesellschaft ausspricht. Der Aufruf wurde später von mehreren linksradikalen Organisationen in Italien unterstützt, und zugleich wurde Tsipras als gemeinsamer Kandidat aller Parteien aufgestellt, die die „Europäische Linke“ ausmachen (unter ihnen die französische Front de gauche, die Izquierda Unida Spaniens, und Die Linke in Deutschland). Sie betonten vor allem die Dringlichkeit, die Geschichte der großen Koalitionen und des Wechselbetriebs an der Spitze zwischen konservativ Liberalen und Sozialdemokraten zu unterbrechen; diese haben in alle Mitgliedsländern und in Straßburg und Brüssel die Aussicht auf ein soziales Europa ruiniert und die budgetären Beschränkungen in eine eherne Herrschaft der EU verwandelt, der sich jetzt jede Institution und politische Maßnahme unterordnen müssen.

Die Unterzeichner betonten die symbolische Bedeutung, den populären Politiker eines Landes für die Präsidentschaftskandidatur aufzustellen, das seit fünf Jahren als Versuchskaninchen für die erzwungene Privatisierung öffentlicher Dienste dienen musste und dessen repräsentative Demokratie unter Kuratel gestellt wurde. Sie unterstützten auch sein Programm: eine Konferenz für die Restrukturierung der Schulden, eine neue Aufgabe für die EZB, ein umfassender Plan für die Reduzierung der sozialen und regionalen Ungleichheiten.

Die dritte Erklärung schließlich („Another Road for Europe“, Ein anderer Weg für Europa) stammt vom European Progressive Economists Network Euro-pen unter der Leitung von so bedeutenden Mitgliedern wie Rossana Rossanda und Luciana Castellina aus Italien, Elmar Altvater aus Deutschland, Susan George von Attac Frankreich und wiederum Zygmunt Bauman, Mary Kaldor und Saskia Sassen. (Aus Österreich hat sich der Beirat für gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitische Alternativen beigewum angeschlossen; Anm. d. Red.) Sie fordern: Austerity beenden, Finanzen kontrollieren, Arbeitsplätze schaffen, das wirtschaftliche Auseinanderdriften umkehren, Ungleichheit reduzieren, Demokratie erweitern.

Neo-liberale Orthodoxie

Die Erklärung betont, dass es einen direkten Zusammenhang gibt zwischen einem Programm öffentlicher Ausgaben und einem „ökologischen Übergang“ im Produktionsmodell; dass die Regulierung der Bankaktivitäten, die Spekulations- von Zinsgeschäften trennt, weit über die kürzliche Einigung auf eine „Bankenunion“ (die ihrerseits der amerikanischen „Volcker Rule“ hinterherhinkt) hinausgehen muss; und dass wirtschaftliche Verhandlungen, die in Europas Namen von der Kommission geführt werden, parlamentarischer Kontrolle unterliegen müssen. Die Erklärung unterstützt keine bestimmte Kandidatur, aber sie besteht darauf, dass eine Alternative zu den „zentristischen“ Allianzen entstehen muss.

Zweifellos gibt es Unterschiede in Inhalten und Taktiken zwischen diesen Erklärungen, aber ein Kern gemeinsamer Prinzipien ist vorhanden: nämlich die klare Erkenntnis der Tatsache, dass die EU spätestens seit Maastricht in einem Zirkel autoritärer Governance gefangen ist – was durch die Undurchsichtigkeit ihres institutionellen Systems, in dem Finanzlobbys eine entscheidende Rolle spielen, noch verstärkt wird. Dazu kommt eine neo-liberale Orthodoxie im Dienst der Finanzmächte, die ständig die industrielle Leistungsfähigkeit und die soziale Zusammensetzung der europäischen Bevölkerung neu ordnen. Dieser Zirkel muss unterbrochen werden, und das kann nur von innerhalb der europäischen Perspektive erfolgen, durch den wachsenden Druck der Bürger, die dem Druck „souveräner“ Trugschlüsse und „kosmopolitischer“ Illusionen gleichermaßen widerstehen müssen.

Unter diesem Gesichtspunkt stehen „wir, das Volk Europas“, in einer Ecke. Wir werden von Atomisierung ebenso bedroht wie von der Instrumentalisierung durch die extreme Rechte. Aber es fehlt uns weder an Ideen noch an Ressourcen.

Neue Weltordnung

Ich möchte noch etwas Persönliches anfügen. Wenn die genannten Prinzipien und Vorschläge wirklich zu einer Alternative im gegenwärtigen europäischen System werden sollen, dann müssen sie in mehreren Bereichen ihr Ziel erreichen. Die wichtigsten sind in meinen Augen

(1) eine gemeinsame Politik in Erziehung, Sprachen und Kultur (denn die europäische Jugend braucht nicht nur Arbeit, sondern auch eine gemeinsame Identität auf der Grundlage ihrer verschiedenen Traditionen, die zugleich verschiedene Kompetenzen sind);

(2) eine energische Verteidigung der Menschenrechte; sie waren einmal das Aushängeschild der europäischen Demokratien und sind zurzeit in großer Gefahr (etwa angesichts der Verfolgungen der Roma, von Ungarn bis Frankreich, und der mörderischen Grenzpolizeiaktionen, die gegen Flüchtlinge und Migranten im Mittelmeer gerichtet sind;

und (3) eine generalüberholte internationale Politik. Im eigenen wie im globalen Interesse sollte sich Europa andere Ziele setzen als an Nachhutsgefechten des amerikanischen Imperiums teilzunehmen, Diktatoren in Afrika zu stützen oder zu stürzen oder mit dem postsowjetischen Imperium um die Kontrolle slawischer und kaukasischer Nationen zu kämpfen. Es muss vielmehr um eine neue Weltordnung kämpfen.

Um auf die Eingangsfrage zurückzukommen: Genügen Wahlen mit einem begrenzten Einsatz, wenn man so ein Programm herauskristallisieren und bedeutende Kräfte dafür sammeln will? Offensichtlich nicht. Zur Wiedergeburt der politischen Linken in Europa braucht es mehr, und andere Formen grenzüberschreitender Mobilisierung sind nötig. Doch die Wahlen könnten dabei helfen, ihre Notwendigkeit zu popularisieren, vor allem angesichts der allgemeinen Zunahme der rechtsextremen (manchmal offen faschistischen) Parteien in Europa. Aus diesem Grund werde ich am 25. Mai für die Kandidaten wählen, die den eben genannten Prinzipien am nächsten kommen. Ich sehe in ihnen die einzige Hoffnung auf eine demokratische Zukunft des Kontinents (und seiner Inseln …), auf dem ich vor langer Zeit mein bürgerliches Engagement eingegangen bin. (Étienne Balibar, DER STANDARD, 24./25.5.2014)

Aus dem Englischen und Französischen von Michael Freund