Die heftigen Jungs
Prolog: Die große Wanderung
Anfang der 60er-Jahre des vorigen Jahrhunderts nimmt der Strom des Gast-Arbeitens "im Westen" auch meine Eltern mit, und sie setzen sich erfolgreich in Wien fest, indem sie wie tausende ihrer Landsleute redliche Arbeit und Wohnung finden und später ihre Kinder nachholen. Doch andere "Gastarbeiter" kommen nicht mit dem Ziel, ein besseres Leben zu finden und eine Familie zu gründen. Sie kommen, um erst ihre eigenen Landsleute und bald jeden anderen auszuplündern, zu erpressen und zu betrügen.
Ljubomir Magaš, Željko Ražnatović und Aleksandar Golubović sind die berühmtesten Vertreter dreier Generationen jugoslawischer Gangster. Mehr noch: Sie und ihre jeweilige "Epoche" repräsentieren ein Schauspiel in drei Akten, dessen Regie die Geschichte selbst führt und in dem die Rollen der Gangster nach dem Bedarf der Politik wechseln.
Erster Akt
Der Pate von Frankfurt: Ljubomir Magaš
27. Mai 1948–10. November 1986
Die Legende berichtet, dass er seine Gegner im "Geschäft" mit bloßen Fäusten zur Räson bringt. Auch unmittelbar nach einem gewonnenen Boxkampf, mit noch geschwollenem, blutendem Gesicht und frischen Nähten an der Arkade. In seiner Generation, so heißt es weiter, seien Feuerwaffen eher einschüchterndes Prestigeobjekt und weniger Werkzeug. Was zählt, sind harte, muskulöse Jungs, geschart um einen noch härteren, noch muskulöseren und charismatischen Anführer.
Doch als "Ljuba Zemunac" (Zemun = Semlin, Vorstadt von Belgrad) am 10. November 1986 aus dem Kreisgericht in Frankfurt schreitet, wird er von mehreren Kugeln aus einer Feuerwaffe getroffen. Sein Mörder ist der Profieinbrecher Goran Vuković "Majmun" - der Affe. So genannt, weil er ein geschickter Fassadenkletterer ist. Die tödlichen Schüsse sind die Rache des "Affen" im Streit um Gebiete und Geschäfte.
Auch wenn Ljubomir Magaš als Pate bezeichnet wird, sind er und seine Jungs keine Corleones vom Balkan, sondern bleiben eher eine Bande, die jedoch immerhin zwei deutsche Städte als ihr Gebiet beherrscht. Mit echten Mafiosi haben Magaš und seine Freunde nur gemein, dass sie früher Straßenjungen waren, die ihre Freundschaft schon als Minderjährige in Besserungsanstalten gründeten und später gemeinsame Gefängnisstrafen abgeleistet haben. Aus seinem Aufenthalt in einer Jugendanstalt in Zemun (Semlin) nimmt Ljuba seinen Spitznamen "Zemunac" bis ins Grab mit. Genauso wie die Leidenschaft für das Boxen.
Nach zahlreichen Delikten, darunter die bestialischen Gruppenvergewaltigung einer Schülerin, beschließen Magaš und einige seiner besten Kumpel, in den Westen zu gehen. Über Zwischenaufenthalte in Wien und Mailand kommen sie schließlich Anfang der 70er-Jahre nach Offenbach bei Frankfurt. Das "Büro" der Magaš-Bande ist das "Café Journal" in Offenbach. Die wenigen, nicht gut organisierten einheimischen Kriminellen prügeln sie aus dem Geschäft und übernehmen praktisch den gesamten "Markt" für Zuhälterei, Drogenhandel, Einbruch, Diebstahl, Schutzgelderpressung, Wucher und illegales Glücksspiel. Bald ist der deutsche Staat der Ansicht, das Magaš ihm lästig genug ist, um auf ihn und seine Bande das Antiterrorismusgesetz anzuwenden; der Offizier Otto Leder wird beauftragt, im Bundeskriminalamt eine Sondergruppe einzurichten, die ausschließlich für Ljubomir Magaš zuständig ist. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass, wie manche behaupten, die Sondergruppe eine Party feiert, als Goran Vuković ihn erschießt. Sicher ist nur, dass "der Affe" für diesen Mord erstaunlich kurze fünf Jahre absitzt, um anschließend nach Belgrad zu übersiedeln. Nach fünf überlebten Attentaten wird Vuković am 12. Dezember 1994 im Zentrum von Belgrad von 25 Kugeln aus einem AK-47 Sturmgewehr zerfetzt.
Auf dem Grab von Ljuba Zemunac auf dem Friedhof von Zemun steht sein lebensgroßes Ebenbild aus schwarzem Marmor, die kitschige Steinplastik eines Boxers in Angriffspose. Doch Ljubomir Magaš verbringt sein Leben als ordinärer Gewalttäter und etwas besser organisierter Verbrecher. Und nicht als ehrlicher Kämpfer einer antiken und edlen Sportart.
Rückblende und Intermezzo
Aber weder die "klassischen" Gastarbeiter noch Kriminelle wie Magaš in ihrem Gefolge sind die Ersten, die in Wien, München, Frankfurt oder Mainz mit zwei, drei Koffern aus einem Zug aussteigen. Vor ihnen kommen auf abenteuerlichen Umwegen die jugoslawischen Verlierer des Zweiten Weltkrieges in diese und andere europäische Städte. Es sind entkommene Ustaša und Četnici, albanische Balisti, mazedonische Separatisten, allerlei andere Nationalisten, Kollaborateure der Besatzer und Antikommunisten.
Während der 60er- und zu Beginn der 70er-Jahre verübt die sogenannte politische Emigration zahlreiche Anschläge und Attentate gegen jugoslawische Einrichtungen und Diplomaten in Europa und Übersee. Trauriger Höhepunkt ist der Absturz einer DC-9 der Yugoslav Airlines über dem tschechischen Kamenice 1972. Der Terrorakt, ausgeführt mit einer Höllenmaschine kroatischer Ustaša, kostet 27 Menschen das Leben. Nur die Stewardess Vesna Vulović überlebt schwerstverletzt den Absturz aus 9000 Meter Höhe, was von der Weltpresse als "Wunder von Kamenice" bezeichnet wird.
Der ehemalige Hauptinspektor für Staatssicherheit Božidar Spasić berichtet, dass Mitte der 70er-Jahre bereits fast 2000 Tote auf das Konto diverser antijugoslawischer Organisationen gehen. Diese Tatsache hält man allerdings vor dem Volk geheim und überlegt Gegenmaßnahmen. Die politische und terroristische Aktivität der Kriegsdiaspora wird so zum Geburtshelfer der Zusammenarbeit des Jugoslawischen Sicherheitsapparates mit dem Archipel der "gewöhnlichen" jugoslawischen kriminellen Inseln, die ab den 70ern in allen Städten Europas auftauchen. Eine der operativen Maßnahmen ist das "Anzapfen" von organisierten Kriminellen wie Ljubomir Magaš, die Informationen sammeln, für Infiltration, Desinformation, Beschattung und Einschüchterung sorgen. Selbstverständlich gegen Gefälligkeiten und Geld. Das Morden aber vertraut man noch "besonders befähigten" Mitarbeitern der Staatssicherheit an. Doch dann kommt "Arkan".
Zweiter Akt
Das Raubtier: Željko Ražnatović
17. April 1952–15. Jänner 2000
Božidar Spasić teilt die Geschichte der Zusammenarbeit der jugoslawischen Staatssicherheit mit Gangstern in die Zeit vor und die Zeit nach Željko Ražnatović "Arkan" ein. Durchaus zu Recht: Ražnatović ist der Lord Voldemort des Verbrechens, die Quintessenz des Bösen.
Im Lauf seiner Karriere ist er Bankräuber, Killer für die Staatssicherheit, der Pate von ganz Serbien, Warlord mit eigener Armee, eigenem T-72 Panzer, eigenen Kriegsverbrechen, eigener Partei, eigenem Fußballklub, eigenem Tiger und besten Beziehungen zur First Family Serbiens, dem Klan von Slobodan Milošević, für den Arkan die schmutzigsten Kriegsverbrechen begeht. All das und im Besonderen Letzteres soll Arkan am Ende bloß zwei angesetzte Kopfschüsse in der Lobby des Hotel Intercontinental einbringen.
Željko Ražnatović hat einen guten Start ins Leben, weil sein Vater ein Offizier der Volksarmee ist und damit zur bevorzugten Klasse im angeblich klassenlosen Staat gehört. Trotzdem schreitet er die üblichen Stationen auf dem Weg zum Gangster ab, vom jugendlichen Taschendieb bis zum bewaffneten Räuber. Seinen ersten Spitznamen "Hibrid" (Hybrid) bekommt er beim Versuch, mit Muskeltraining und Anabolika ein härterer Bursche zu werden. Doch statt im Gefängnis zu landen, kann der talentierte Željko aufgrund der guten Beziehungen seines Vaters in den Krim-Export der Staatssicherheit einsteigen. Ražnatović bekommt den Auftrag, im kapitalistischen Westen unartig zu sein, erhält bestens gefälschte Reisepässe und seinen endgültigen Spitznamen "Arkan", nach seiner liebsten Comicfigur, dem Zauberer Arkanus.
In Schweden wird er bald als "der Bankräuber mit der Rose" bekannt, weil er bei Überfällen den anwesenden Damen Rosen überreicht. Auch den Rest Europas inklusive Paris, Frankfurt und Wien überzieht Arkan mit Bank- und Juwelenraub. Für die Heimat erledigt er zwischendurch, was Božidar Spasić euphemistisch "einige sehr gelungene Operationen" nennt. Danach vertraut der Staatssicherheitsdienst Morde, Bombenanschläge und warnende Verstümmelungen im Kreis der politischen Emigration "besonders befähigten Kriminellen" an. Für Arkan ist das die Reifeprüfung, die ihm später die Protektion durch Slobodan Milošević und damit eine kometenhafte Laufbahn als serbischer Obergangster und Warlord ermöglicht.
Mit dem Ausbruch des Krieges bekommt Arkan eine eigene kleine Armee vom Staatssicherheitsdienst geschenkt. Sie hat keinen Kampfwert, sondern setzt sich aus Fußballhooligans und Kriminellen zusammen, die es ausgezeichnet verstehen, mit ihren Kalaschnikows unbewaffnete Nichtserben zu massakrieren, zu vertreiben, auszuplündern und die Beute in Serbien zu investieren. Diese "Serbische Freiwilligengarde" oder "Arkans Tiger" ziehen eine Blutspur durch Kroatien, Bosnien und den Kosovo. Mit dem Ende des Krieges wird Arkan nicht arbeitslos, sondern festigt sein kriminelles Imperium, weitet es auf ganz Serbien aus und ist Milošević weiter zu Diensten, wenn es um die Beseitigung von Personen geht, die Slobos Klan irritieren.
Nach einem Zwischenspiel als gänzlich erfolgloser Politiker, während sich der Niedergang seines Patrons abzeichnet, werden Ražnatović und seine "Tiger" zum Fall für das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. Einem möglichen "Deal" mit dem Tribunal, der Milošević belasten könnte, kommen die Kopfschüsse im Intercont zuvor. Das Glück und das Leben verlassen Arkan, als er gerade einen Lottoschein an der Rezeption ausfüllt. Sein Tod hinterlässt eine Lücke im Gefüge der kriminellen Macht, die eine neue Generation von Verbrechern wie Aleksandar Golubović nutzen, um die beste Zeit ihres Lebens zu haben.
Dritter Akt
Der junge Wilde: Aleksandar Golubović
30. November 1969–20??
Schon die Umstände seiner Zeugung haben eine gewisse kriminelle Mystik, sogar Romantik. Aleksandar wird in München während der letzten Nacht empfangen, die sein Vater in Freiheit verbringt. Am nächsten Morgen wird er verhaftet, und das Urteil für einen Überfall, der zum Raubmord wurde, lautet "lebenslängliche Haft". So wird Aleksandar Golubović, den später alle nur "Kristijan" nennen, buchstäblich ins Kriminal hineingeboren. Und von ihm getauft. Aleksandars Taufpate (kum) ist Ljubomir "Ljuba Zemunac" Magaš, damals erst auf dem Weg zu seiner steilen Gangsterkarriere in Frankfurt.
Seine Jugend verbringt Aleksandar in Belgrad in der Plattenbausiedlung "Braće Jerković" (Brüder Jerković), benannt nach zwei heldenhaften Partisanen. Einer seiner besten Freunde ist Milorad Ulemek, genannt "Legija", später rechte Hand von Arkan bei seinen "Tigern", noch später Kommandant der Jedinica za specijalne operacije, JSO (Einheit für Spezialoperationen) der Staatssicherheit und einer der Organisatoren des tödlichen Attentats auf den serbischen Premier Zoran Djindjić. "Kristijan" und "Legija" – damals noch "Bolid" oder "Cema" genannt – stemmen gemeinsam mit anderen Jungs, die heftig werden wollen, Gewichte aus Zement, bis sie die größte Muskelansammlung in ihrer Gegend werden. Zwischendurch trainiert Aleksandar auch Kickboxen und wird ein Meister dieser Kampfsportart. Und dann, am 25. Februar 1990, erfindet Golubović sich selbst als der wildeste der wilden Jungs von Belgrad.
In dieser kalten Winternacht stürmen Aleksandar und seine Jungs schwer bewaffnet die Belgrader Discothek Mažestik, die ein Treffpunkt der schicken, schönen Oberwelt, der kriminellen Unterwelt und der Zwischenwelt des Geheimdienstes ist. Der Auftritt der jungen Banditen ist ein Spektakel, das Belgrad bis dahin so nicht kennt. Die Golubović-Bande ist entschlossen, einen ihrer Feinde, den man im Mažestik vermutet, öffentlich hinzurichten. Doch der Feind ist nicht unter den Anwesenden. So zwingen die wilden Jungs alle Gäste, darunter etliche etablierte Könige der Unterwelt, höhere Offiziere des Geheimdienstes und zahlreiche Schickimickis, sich auf den Boden zu legen und "erschießen" die Bar, die Spiegel und fast alle Möbel.
Diese Aktion schafft Golubović viele neue Freunde und gefährliche Feinde. Der gefährlichste unter den Feinden ist Arkan, der ihm lange nach dem Leben trachtet. Nach einer Vermittlung durch seinen Jugendfreund Ulemek "Legija" wird der Streit beigelegt, und die neuen Freunde sorgen für florierende Geschäfte. So wird Aleksandar Golubović zum Chef der größten Gang in Belgrad und bis zu Arkans Tod zu einem der wichtigsten Paten der Stadt. In einem Interview gesteht der harte Muskelberg mehrere Selbstmordversuche während diverser Gefängnissaufenthalte. Die Rettung findet er im exzessiven Muskeltraining und dem Malen von Bildern. Diese Sammlung therapeutischen Kitsches stellt Golubović später in einer Galerie aus.
Sein einziger ernsthafter Versuch, aus dem Gangsterleben auszusteigen, endet im Fiasko. Aleksandar zieht am Anfang des neuen Jahrhunderts mit seiner Familie in die Serbenkolonie in Athen, wo schon zahlreiche Regimegünstlinge und Gangster ihre Zweitwohnsitze haben. Sein neues Haus lässt er allerdings mit gestohlenen Möbeln und Unterhaltungselektronik ausstatten, wofür er bald von der griechischen Polizei verhaftet wird. In der Folge gerät Golubović in eine der größten Gefängnisrevolten Athens, flieht aus einem anderen griechischen Gefängnis, wird verhaftet und an Serbien ausgeliefert.
Gegenwärtig sitzt Aleksandar "Kristijan" Golubović eine 14-jährige Haftstrafe in Belgrad ab. Bei einer Kontrolle findet die Polizei hundert Gramm Kokain und illegale Waffen. Seine Mutter wird ebenfalls festgenommen, weil auch in ihrer Wohnung illegale Feuerwaffen gefunden werden. Das letzte Statement seiner Mutter, vor Gericht zu Journalisten gebrüllt, lautet: "Ich hätte dich abtreiben sollen!"
Epilog
Nach diesem Fluch seiner Mutter ist zu erwarten, dass der nächste Selbstmordversuch des nur im Gefängniss zart besaiteten, aber in Freiheit brutalen Schlägers Golubović gelingen könnte. Željko Ražnatović, der gnadenlose Killer und Vergewaltiger, ist für manche Serben noch immer ein patriotischer Held und Vorbild. Der billige Marmor auf dem Grab von Ljubomir Magaš ist sichtbar verwittert, aber einige Agenturen bieten touristische Führungen zu seinem und allen anderen Gräbern der harten Jungs aus den Traueranzeigen, die verstreut auf den Friedhöfen von Belgrad liegen. (Bogumil Balkansky, 23.3.2014, daStandard.at)