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"Provokacja" ist ein wichtiges Wort: prorussisches Militär am 19. Mai bei einer Straßensperre in der Ostukraine.

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Das Problem ist, dass "vorgestrige Politiker" vorerst durch "gestrige" ersetzt werden. Im Südwesten des Landes hielten Ukrainer Anfang der vergangenen Woche (am 19. Mai) eine riesige Nationalflagge.

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Eine alte Frau auf dem Ploschtscha Swobody, dem Freiheitsplatz, in Charkiw. Schwarz gekleidet, ein altmodisches Hütchen, um das sie ein blau-gelbes Band gebunden hat. Blau-Gelb sind die nationalen Farben der Ukraine. Hier, im Osten des Landes, ist es ein politisches, nicht ganz ungefährliches Statement, sich damit in der Öffentlichkeit zu zeigen. Die Frau steht am Fuß der 20 Meter hohen Lenin-Statue und streut Körner für die Tauben, die auf dem monumentalen Revolutionsführer hocken. Drei junge Männer, Stiernacken, geschwollene Bizepse, Glatzen, kommen des Weges. Sie bleiben stehen, bauen sich vor der Alten auf und starren mit finsteren Blicken auf das Hutband. Es scheint ihnen nicht zu gefallen. Die Frau lächelt freundlich und rückt kokett ihr Hütchen zurecht. Die Burschen spucken aus und trollen sich.

Schuld der Väter

Charkiw im April 2014. Ich bin mit meiner Übersetzerin Nelia Vakhovska in die zweitgrößte Stadt der Ukraine, dreißig Kilometer von der russischen Grenze entfernt, gekommen, um die ukrainische Ausgabe des Buches Der Tote im Bunker zu präsentieren. Vorher waren wir auf der Buchmesse in Kiew. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, mit der Schuld der Väter, ist in der Ukraine ein brisantes Thema. Es ist höchste Zeit, dass wir uns damit auseinandersetzen, wir haben das viel zu lange aufgeschoben, das rächt sich jetzt, sagt Nelia. Sie sieht mit großer Sorge die Entwicklung im Osten. Es gebe Banden, aufgehetzt und unterstützt vom benachbarten Russland, durchsetzt mit kriminellen Elementen, aber auch authentische Empörung, Menschen, die sich von Kiew missachtet fühlen und daher empfänglich sind für die russische Propaganda von den "Faschisten", die in der Ukraine die Macht an sich gerissen hätten. Tatsächlich kümmere sich die neue Regierung in Kiew viel zu wenig um die Gebiete im Osten und die Anliegen ihrer Bewohner, meint Nelia.

Solche Kritik ist in Charkiw überall zu hören. Kiew lässt uns links liegen, ignoriert unsere Sorgen, das spielt den Separatisten und letztlich Putin in die Hände, klagt ein Historiker, der ungenannt bleiben möchte. Er stammt aus einem Vorort von Charkiw, in seiner Familie hat man immer Ukrainisch gesprochen, obwohl die Mehrheit in der Stadt (wie auch in Kiew) russischsprachig ist. Auf meine Frage, was er machen würde, wenn Russland die Gebiete im Osten annektiert, zuckt er die Achseln. Er wisse es nicht, er sei mit ganzem Herzen und seiner Seele Ukrainer, sagt er, aber hier sei er zu Hause.

Blutige Zusammenstöße

Als ich nach Charkiw kam, war die Lage gespannt, aber es gab im Osten noch keine regelrechten Kämpfe wie heute. Am Tag vor unserer Ankunft erlebte die Stadt blutige Zusammenstöße, Zeitungen und Fernsehen zeigten am nächsten Tag erschreckende Bilder von blutüberströmten Menschen, umringt von einem entfesselten Mob, der auf die Wehrlosen einprügelt. Den Kommentaren war nicht zu entnehmen, wer welche Seite vertrat. Das ist in solchen Situationen vielleicht nicht so wichtig, es geht darum, dass blinder Hass geschürt, Exzesse provoziert werden. Provokacja, Provokation, ist ein wichtiges Wort in diesem schmutzigen Spiel, das der Kreml meisterhaft beherrscht. Die russische Propagandamaschine, perfekt geölt, läuft auf Hochtouren, dazu kommen militärische Aktionen, Entführungen, echte oder vermeintliche Gegner verschwinden, irgendwann werden ihre Leichen gefunden, mit Spuren von Folterungen. Darauf verstehen sich die russischen "Berater", uniformiert (ohne Hoheitsabzeichen) und in Zivil, mehr schlecht als recht getarnt als lokale Bewohner, die wie aus dem Nichts auftauchen und das Kommando übernehmen. Dass viele Menschen im Westen die russische Behauptung, in der Ukraine seien Faschisten, Neonazis, Pogromisten am Werk, willig schlucken, bestärkt Putin in seinem Vorhaben. Heute die Krim und morgen die Ukraine. Und übermorgen vielleicht die Republik Moldau. Und dann Lettland. Es gibt viele Länder mit russischen Minderheiten.

Friedliche Stadt

Als wir am Tag nach den Zusammenstößen durch Charkiw spazieren, ist alles ruhig. Am Gebäude der Gebietsverwaltung sind alle Scheiben zerschlagen, über dem Eingang ist ein bizarres Muster von Einschusslöchern zu sehen, schwer gerüstete Bereitschaftspolizisten bewachen den Amtssitz. Aber sonst wirkt die Stadt friedlich, atmet Normalität, die Menschen flanieren, als wäre nichts geschehen, Mütter mit kleinen Kindern, Liebespaare. Es ist beeindruckend, wie ruhig und gelassen die Ukrainer auf die Bedrohung und ständigen Provokationen reagieren, das ist mir schon in Kiew aufgefallen. Sie lassen sich nicht einschüchtern, verfallen nicht in Panik, bewahren einen ruhigen Kopf. Auch in Lemberg, so er- zählen Freunde, gibt es keine gehässigen antirussischen Parolen, keiner wird scheel angeschaut, wenn er auf der Straße russisch spricht.

Revolution der Würde

In der Revolution der Würde, wie man den Kampf gegen das Janukowitsch-Regime nennt, wurde eine neue ukrainische Identität geboren, die sich nicht gegen Russland, gegen die russische Kultur richtet. "Ich liebe Puschkin, aber nicht Putin", lautete eine Losung auf dem Maidan. Er war multiethnisch, russischsprachige und ukrainischsprachige Ukrainer kämpften gemeinsam mit Armeniern, Juden, Weißrussen und Angehörigen anderer Volksgruppen für Demokratie und Freiheit. "Wenn man von einem neuen ukrainischen Patriotismus sprechen kann" , so der aus Lemberg stammende Dichter Oleksandr Irwanez, dem ich auf der Buchmesse im Kiewer Arsenal begegne, "dann ist er politisch, nicht ethnisch, das heißt die Sprache, Ukrainisch oder Russisch, ist ohne Belang."

Toleranz à la Putin

Die meisten Medien im Land, Zeitungen, Fernsehen, auch in der Hauptstadt, sind russisch, sogar der Katalog der Buchmesse ist in russischer Sprache gedruckt. So viel zu den im Westen von vielen geglaubten Behauptungen Putins, es gehe vor allem darum, die russischsprachigen Menschen in der Ukraine zu schützen, ihr Recht auf die eigene Sprache und Kultur, die ukrainische Ultranationalisten und Faschisten verbieten wollten.

Wie schaut es umgekehrt aus? In den von Separatisten besetzten Städten im Osten ist es nicht ratsam, Ukrainisch zu sprechen, dort würde es keiner wagen, einen Hut mit blau-gelbem Band zu tragen. Toleranz à la Putin. Die regiert auch in Russland. Wer nicht in die russische Propaganda einstimmt und nicht den Feldzug gegen die Ukraine bejubelt, wird als Volksverräter abgestempelt, sagt die russisch schreibende weißrussische Autorin Swetlana Alexijewitsch. Russischsprachige Intellektuelle in der Ukraine, die sich dagegen verwahren, von Putin "beschützt" zu werden, wie der Autor Andrej Kurkow, werden als "russischsprachige ukrainische Nationalisten" und Volksverräter diffamiert.

Massenversammlungen verboten

Wie es um die Glaubwürdigkeit Putins und seiner Handlanger, die sich als hehre Kämpfer gegen Faschismus und Anarchie stilisieren, bestellt ist, zeigt das Beispiel der Krimtataren. Nach der Besetzung der Krim versprach Putin den Tataren eine vollständige Rehabilitierung - unter Stalin waren sie wegen angeblicher Kollaboration mit Hitlerdeutschland aus ihrer Heimat deportiert worden - und Anerkennung als "Opfer Stalins" , dazu großzügige Investitionen in die soziale Infrastruktur der islamischen Minderheit. Die Realität: Vor kurzem haben die Behörden der Krim alle Massenversammlungen verboten, allen voran die Feiern der Tataren anlässlich des 70. Jahrestages ihrer Deportation. Zufall oder Absicht? Als der lang- jährige Führer der Tataren, Mustafa Dschemiljew, von einer Reise auf die Krim zurückkehren wollte, verweigerten ihm die Behörden die Einreise. Es sei allgemein bekannt, dass Dschemiljew für westliche Geheimdienste arbeite, erklärte ein Krim-Politiker nebulos.

"Warum schaut Europa untätig zu, während Putin alles daransetzt, die Ukraine zu destabilisieren?", wurde ich auf der Buchmesse in Kiew von einem Mann im Publikum auf Russisch gefragt. "Zuerst die Annexion der Krim und jetzt die Intervention im Osten und Süden, im Donbass, stets nach demselben Muster, bezahlte Schläger und Unruhestifter, unterstützt von russischen Agenten, ernennen sich selber, mit der Waffe in der Hand, zu Vertretern der russischsprachigen Bewohner und fordern die Abtrennung von der Ukraine. Warum lässt uns der Westen im Stich, so wie er 1938 die Tschechoslowakei und ein Jahr später Polen im Stich gelassen hat?"

Kein Moment der Ruhe

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Und immer wieder die Frage nach einem Rat: Was sollen wir in dieser Situation tun? Ich fühlte mich beschämt, weil ich keine Antwort wusste. Heute, da die Situation noch viel gefährlicher ist, wüsste ich noch weniger eine Antwort. Die weiß keiner. Auch nicht die neuen Politiker in Kiew, die nicht wirklich neu wirken. Unser Problem besteht darin, dass die "vorgestrigen" Politiker bis dato erst durch "gestrige" ersetzt wurden, konstatiert der ukrainische Historiker Jaroslav Hrytsak skeptisch, auf "heutige" Politiker wartet das Land immer noch.

Das nützt Putin skrupellos aus, er gönnt der Ukraine keinen Moment der Ruhe. Sein wichtigstes kurzfristiges Ziel besteht darin, die Präsidentschaftswahlen zu verhindern. Das soll die Ukraine weiter schwächen und den Glauben an die Legitimität der Politiker untergraben. Es gibt ernstzunehmende Beobachter, die meinen, die Ukraine sei nur ein Etappenziel, insgesamt verfolge Putin eine Strategie, die sich gegen Europa richte. "Putin will nicht nur die Präsidentschaftswahlen in der Ukraine verhindern, er will gleichzeitig auch die Wahlen in Europa gewinnen", sagt der amerikanische Historiker Timothy Snyder, ein ausgewiesener Kenner. "Putin gibt mittlerweile offen zu, dass er auf der Seite der europäischen Neonazis, der Faschisten und der rechtspopulistischen Parteien steht. Und die werden sehr erfolgreich sein. Das ist eine bewusste Strategie Putins, um die EU zu kapern, sie zu destabilisieren und von innen heraus zu zerstören." Putin möchte dem freien Europa, für ihn eine Marionette des Erzfeindes Amerika, eine Eurasische Union unter russischer Führung entgegenstellen. Doch ohne die Ukraine bliebe das eurasische Imperium Stückwerk. Deshalb drückt Putin jetzt aufs Tempo.

Russische Intellektuelle als Nationalverräter

Innerhalb weniger Wochen hat die russische Aggression die Weltordnung grundlegend verändert. "Die Welt wird nie mehr die gleiche sein. Putin hat die Welt, die nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut wurde, in die Luft gesprengt", schlägt Swetlana Alexijewitsch Alarm.

Aber im freien Europa, auch in Deutschland und Österreich, stecken viele den Kopf in den Sand. Dabei gibt es auch in Russland, obwohl die Medien weitgehend gleichgeschaltet und kritische Stimmen mundtot gemacht wurden, Intellektuelle, die gegen die aggressive Politik Moskaus offene Worte finden. Neunzig bekannte Bürgerrechtler, Wissenschafter und Schriftsteller unterzeichneten einen öffentlichen Appell "Gegen den Krieg, gegen die Selbstisolierung Russlands, gegen die Restauration des Totalitarismus". Sie werden als Nationalverräter gebrandmarkt.

Wo bleibt der Aufschrei westlicher Intellektueller, wo bleiben die Solidaritätserklärungen, die aktive Hilfe für diese mutigen Menschen, wie in den Zeiten des Kalten Krieges? Leben wir nicht längst in einem neuen kalten Krieg, ohne dass wir das wahrhaben wollen, weil wir uns bequem eingerichtet haben innerhalb der Schengen-Grenzen, warm und gemütlich? Was kümmern uns die Ukrainer, die sind draußen, fern und fremd.

Prominente Putin-Versteher

Oft hat man den Eindruck, dass Putin gar keine Propaganda mehr braucht, weil er ohnehin auf genügend "nützliche Idioten" im Westen zurückgreifen kann, die ihn verstehen und seine Aggression schönreden. In Deutschland, Österreich und anderswo. Etwa die deutschen SPD-Politiker Gerhard Schröder, Günter Verheugen und Helmut Schmidt, um nur ein paar große Namen zu nennen.

Bevor ich nach Kiew zur Buchmesse fuhr, nahm ich in Berlin an einer Diskussion über die Ukraine teil, mit auf dem Podium saß der langjährige EU-Kommissar Günter Verheugen. Er wetterte gegen die "Faschisten, Neonazis und rabiaten Antisemiten", die in der Ukraine das große Wort führten und alles Russische ausmerzen wollten. Als der neben ihm sitzende Andrej Kurkow diese Darstellung ins Reich der Putin'schen Fabel verwies und versicherte, dass er als russischsprachiger Autor in Kiew keinerlei Diskriminierung ausgesetzt sei, wurde der prominente Putin-Versteher grantig. Argumente wollte er nicht zur Kenntnis nehmen.

Was geht uns das an?

In Österreich finden regierende Politiker nichts dabei, dass die OMV vor kurzem mit dem russischen Energieriesen Gasprom eine Absichtserklärung für den Bau einer neuen Gaspipeline, unter Umgehung der Ukraine, unterzeichnete, die ab 2017 russisches Gas nach Österreich bringen soll.

Dass die Europäische Kommission erklärte, der Bau der Gaspipeline South Stream widerspreche EU-Recht, stört die Verantwortlichen nicht, auch nicht die Tatsache, dass die EU angesichts der fortgesetzten Aggression über eine Verschärfung der Sanktionen gegen Russland diskutiert. Was geht das uns an? Sanktionen gegen Russland würden für die österreichische Wirtschaft eine Katastrophe bedeuten, erklären österreichische Wirtschaftstreibende unisono - und die Politiker nicken dazu.

Ein irrwitziger Vorschlag

Dass Putin drauf und dran ist, ein souveränes Land zu zerschlagen und die Grenzen in Europa gewaltsam zu verschieben, passt nicht in ihr Konzept und wird ausgeblendet. Ist alles nicht so schlimm. Man darf Putin nicht vergrätzen, man muss nur mit ihm reden, sich mit ihm an einen Tisch zu setzen. "Österreich am Gängelband Putins" übertitelte die polnische Tageszeitung Gazeta Wyborcza einen Bericht über den peinlichen OMV-Deal.

Der rechtsextreme russische Politiker Wladimir Schirinowski, Chef der noch mithilfe des KGBs gegründeten Liberal-Demokratischen Partei Russlands, machte vor kurzem den bizarren Vorschlag, die Ukraine unter den Nachbarn aufzuteilen, Moskau solle den Osten und Süden des Landes bekommen, Polen "sein" Lemberg, Ternopil und die Region Wolhynien, Ungarn die ehemalige Karpato-Ukraine und Rumänien Czernowitz. Schirinowski wird oft als Hofnarr des Kremls angesehen - aber Narren können auch nützlich sein. Der Kreml lässt Schirinowski manchmal von der Leine, um auszuloten, wie weit Moskau gehen kann.

Ein irrwitziger Vorschlag? Gewiss. Aber der ungarische Staatschef Viktor Orbán, auch er ein lupenreiner Demokrat, griff die Anregung umgehend auf und forderte für die in der Karpato-Ukraine lebenden Ungarn fürs Erste weitgehende Minderheitenrechte wie das Recht auf doppelte Staatsbürgerschaft und, falls gewünscht, Selbstverwaltung.

Die Spaltung Europas hat bereits begonnen. (Martin Pollack, DER STANDARD/Album, 24./25.5.2014)