Maria Noemi Plastino wohnt in Wien und Neapel. Doch zu Hause fühlt sich die Italienisch-Dolmetscherin, die für die EU, die OSZE und den Europarat arbeitet, in ganz Europa. Wojciech Czaja hat sie besucht.
"Vor meinem Schlafzimmer befindet sich eine riesige, mehr als 20 Meter hohe Linde. Die Äste kommen so nah an mein Fenster, dass ich sie angreifen kann. Mittlerweile ist das Begrüßen der Linde eine Art morgendliches Ritual geworden. Damit verbinde ich mich mit dem Tag und mit der Natur. Manchmal verirren sich sogar ein paar Meisen in die Wohnung, zischen durchs Zimmer und machen eine Ehrenrunde. Ich finde das großartig.
Eingezogen bin ich hier 1984, als ich zum Studium nach Wien gezogen bin. Im Haus herrscht ein nettes und freundliches Klima. Die Mietwohnung hat 110 Quadratmeter und war damals in einem ausgezeichneten Zustand. Als die Wohnung vor wenigen Jahren renoviert wurde, habe ich allerdings entdeckt, dass in der Küche, im Bad, im Vorzimmer und in einem der Schlafzimmer Zwischendecken eingezogen waren. Unglaublich! Ich habe die Decken entfernen und die alten Gewölbe freilegen lassen. Hofseitig habe ich zudem einen kleinen Balkon angebaut. Mittlerweile ist der Balkon so zugewachsen, dass man dort kaum noch Platz zum Sitzen hat. Es ist eine wilde Oase mit kleinen Bäumen. Letztes Jahr hatte ich 62 Weingartenpfirsiche! Mir war schon richtig schlecht. Ich wusste nicht mehr, was ich damit machen soll.
Ich lege großen Wert auf schöne, gut designte Möbel. Besonders gern jedoch habe ich diese chinesische Schubladenkommode beim Fenster. Sie stammt aus der Kolonialzeit und wurde seinerzeit für die Europäer in China gebaut. Mein Lieblingsplatz ist dieser alte Art-déco-Kanadier. Hier sitze ich immer mit den Füßen auf dem Fensterbrett und genieße mein grünes Panorama - ein kleines Trostpflaster, das mich über den Ausblick auf den Golf von Neapel hinwegtröstet, den ich hier nicht habe. Immerhin die Linde. Man soll dankbar sein.
Leider komme ich nur sehr wenig zum Wohnen, denn ich bin viel unterwegs. Ich dolmetsche regelmäßig in Brüssel und Straßburg. Außerdem war ich heuer schon in London, Edinburgh, Vilnius, Tallinn, Kiew, Belgrad, Zypern, Istanbul, Baku und so weiter. Ich mache so an die 20 Reisen pro Jahr. So gesehen, habe ich den besten Beruf, den ich mir hätte aussuchen können. Ich bin eine europäische Nomadin. Und Europa hört für mich nicht am Ende des Kontinents auf, sondern reicht noch viel weiter. Europa ist eine Idee. Und zu dieser Idee zähle ich für mich persönlich auch die Türkei. Es wäre schön, wenn sie eines Tages EU-Mitglied würde.
Natürlich ist das Wohnen in anderen Städten nicht vergleichbar mit dem Wohnen in Wien, denn schließlich steige ich immer in Hotels ab. Trotzdem hat auch nur eine Nacht im Hotel eine zutiefst existenzielle Bedeutung für mich. Ich kann nicht einschlafen, wenn ich mich nicht räumlich wohlfühle. Das macht mich unglücklich. Mein Lieblingshotel, in dem ich immer wieder einchecke, ist übrigens ein kleines Hotel in der Orangerie in Straßburg, nicht weit vom Europäischen Parlament. Aus dem Fenster schaue ich direkt auf eine Horde von Störchen. Ich beobachte sie beim Nestbauen, Fliegen und Herumstaksen.
So sehr ich Europa liebe, mein Herz schlägt wohl für Neapel. Ich habe da einen wiederkehrenden Traum: Ich träume mich immer wieder in meine Wohnung hinein, aber sie schaut jedes Mal anders aus. Es gibt versteckte Türen, neue Räume, die ich im Schlaf entdecke, wieder versteckte Türen, wieder neue, unbekannte Räume, und die allerletzte Türe führt auf eine Terrasse, und vor dieser Terrasse liegt der Golf von Neapel. Das ist mein Traum." (DER STANDARD, 24.5.2014)