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Ein Asylwerber protestiert gegen die restriktive Aufnahmepolitik der EU.

Foto: APA/EPA/DANIEL NAUPOLD

Wien - Ein freieres Leben wollte Azghar R. Was er bekam, war eine Tracht Prügel. Nach einer "schrecklichen" Reise aus Afghanistan kam R. im Februar 2012 in Griechenland an. Er schlug sich irgendwie durch, vom Staat erhielt er keine Unterstützung, sagt der gelernte Schneider. "Wir haben im Park geschlafen und wurden von Albanern verprügelt." Gegessen habe er, was ihm kirchliche Helfer gaben.

Dabei hatte Azghar R. zuvor nur Gutes von Europa gehört: Man könne dort frei leben und frei reden. Das war R. aus politischen Gründen im Iran nicht möglich gewesen - auch nicht in Afghanistan, wo er später gelebt hat.

"Es gab nichts mehr"

Rund zehn Jahre lang war er zwischen diesen beiden Ländern hin- und hergependelt. Als seine Mutter in Afghanistan schwer krank wurde und dann starb, zog er einen Schlussstrich. "Da gab es nichts mehr, weshalb ich bleiben wollte", sagt der 28-Jährige heute. "Aber irgendwo muss man Ruhe finden und leben können." Also packte R. seine Sachen und floh - mit dem Ziel Europa.

Mitte 2013 zählte die Flüchtlingsagentur UNHCR in Europa rund 238.000 anerkannte Flüchtlinge. Und die illegale Zuwanderung nimmt dramatisch zu. In den ersten vier Monaten des Jahres 2014 wurden an den Außengrenzen der EU rund 42.000 Flüchtlinge aufgegriffen - mehr als dreimal so viele wie im gleichen Zeitraum 2013.

Im Sommer, wenn das Wetter besser ist, versuchen in der Regel mehr Menschen als im Winter, sich nach Europa durchzuschlagen. Dann ist mit einem weiteren Anstieg der Flüchtlingszahlen zu rechnen. Grund für die Zunahme in den vergangenen Monaten, so meint der stellvertretende Direktor der Frontex, Gil Arias-Fernandez, seien Konflikte wie in Syrien und die schlechten Lebensbedingungen in vielen afrikanischen Ländern.

Tod im Mittelmeer

Oft ist das Mittelmeer die letzte Hürde auf dem Weg - mehr als 700 Menschen brachte sie im Vorjahr nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) den Tod. Die Dunkelziffer dürfte weit höher sein.

Scott E. will nicht genauer ausführen, wie er nach Österreich gelangt ist. Er habe "jemanden gehabt, der mir geholfen hat", erklärt der Nigerianer nur knapp. Wie er auf die Idee gekommen ist, nach Europa zu ziehen? "Gott hat mich geschickt", sagt der 33-Jährige und zitiert einen Vers aus der Bibel. Die Bibel trägt E. in einer Aktentasche immer bei sich. Beten ist ihm wichtig. Jetzt betet er immer in einer protestantischen Kirche in Wien, wie er sagt.

Als der Nigerianer nach Österreich kam, fiel ihm als Erstes auf, "dass es 24 Stunden am Tag Strom und Licht und so gute Straßen gibt", so sagt er. Vorher ausgemalt habe er sich den Kontinent im Norden eigentlich nicht.

Korruption und Kriminalität

Ganz anders Zalina O.: Kurz nach dem Schulabschluss hatte ihr eine Freundin von einer Reise nach Europa erzählt. "Sie hat gesagt, dass es dort viel ruhiger ist", erinnert sich die 34-Jährige heute. Viel ruhiger als in Nasara, einer 93.000-Einwohner-Stadt in einer von Landwirtschaft geprägten Region der russischen Teilrepublik Inguschetien. Dieses Gespräch pflanzte einen kleinen Keim in O.s Kopf, der nach und nach wuchs. Korruption und Kriminalität machten Zalina O. das Leben im Nordkaukasus schwer. Sie floh Jahre später nach Europa - mit dem Ziel, in Freiheit zu leben.

Miriam Mlenar kennt die Erwartungen vieler Flüchtlinge an Europa. Sie hat mehrere Einrichtungen für Asylwerber geleitet, bevor sie Leiterin des Teilbereichs Asyl und Integration bei der Caritas Wien wurde. "Europa steht sehr dafür, dass man die Möglichkeit hat, ein besseres, sichereres, gesünderes Leben zu führen", sagt Mlenar. "Aber das Leben holt die Menschen sehr schnell ein."

"Zur Untätigkeit gezwungen"

Zwar werde dann vieles tatsächlich als besser als in den Heimatländern wahrgenommen, doch die Prozedur des Asylverfahrens mit den Einvernahmen, das Wohnen in einer Erstaufnahmestelle, das "zur Untätigkeit gezwungen sein" und sich nichts aufbauen zu können lasse viele ihre Traumata lange nicht aufarbeiten, sagt Mlenar.

Flüchtlinge würden aber im Allgemeinen trotz ihrer eingeschränkten Möglichkeiten das Leben in Europa als freier oder besser erleben als in ihren Herkunftsländern - nicht nur wenn dort Krieg herrscht. "Zum Beispiel auch, wenn Frauen sehen, wie viele Rechte Frauen hier haben", sagt Mlenar.

So sieht es auch Zalina O. Die gelernte Buchhalterin darf nicht arbeiten, obwohl sie es gerne täte. Sie war in Polen, der Schweiz, reiste "neun Jahre lang durch ganz Europa". Nun lebt sie mit ihren Kindern im Caritas-Haus Amadu in Wien. Von ihrem Mann hat sie sich getrennt. "Nirgends war es so schlecht wie in Russland", sagt sie. In Europa gefällt ihr die Ästhetik der Plätze und der Gebäude, wenn sie auf die Museen in Wien zu sprechen kommt, gerät sie ins Schwärmen.

Fußballtraum ausgeträumt

Auch Afghane Azghar R. fühlt sich in Wien wohl - obwohl aus seinem ursprünglichen Traum nichts geworden ist. R. wollte Fußballtrainer werden und nach Deutschland gehen - oder nach Manchester. Nun teilt er den Schlafraum mit sechs anderen Männern im Wohnheim. "Deshalb kann ich nicht wirklich Sport machen", sagt er. Außerdem bedrückt ihn seine rechtliche Lage: R.s Asylantrag wurde rechtskräftig abgelehnt. Er hat einen Antrag auf Duldung gestellt.

Trotzdem steht Europa für ihn für Gleichberechtigung. "Ich habe sogar ein Foto mit dem Bundespräsidenten", erzählt R. sichtlich stolz. Beim Hochwasser 2013 hatte er sich als Freiwilliger engagiert. Heinz Fischer dankte den Helfern dann persönlich in einem Festakt. "So etwas wäre in Afghanistan undenkbar", sagt R. (Gudrun Springer, DER STANDARD, 24.5.2014)