Die Carrozzeria Bertone ist Geschichte. Die Italiener beherrschten jahrzehntelang die Design-Szene, doch berühmt wurden sie für die Erfindung der ästhetisierten Brutalität

Lange währte das Siechtum, jäh kam das Ende. Seit Anfang Mai ist es Gewissheit: Bertone ist Geschichte. Nach 102 Jahren zog die Automobilgeschichte einer der wichtigsten und bedeutendsten Design-Schmieden des 20. Jahrhunderts den Stecker.

Schließlich war die Gruppo Bertone mehr als bloß eine schöngeistige Manufaktur für Autogestaltung, die sich darüber hinaus auf die Kleinserienfertigung und das Karossieren von äußerst potenter Technik verstand.

Das 1912 in Turin gegründete Unternehmen war ab dem Zweiten Weltkrieg einer der Leitsterne der Branche und gab über mehrere Jahrzehnte hinweg das Design und damit den Markenauftritt vieler Autohersteller vor. Alfa Romeo, Lamborghini, Fiat, Lancia, Opel oder Citroën – um nur einige zu nennen – griffen auf die Dienste von Stile Bertone zurück. Als mit den 1950ern die Blütezeit italienischen Automobildesigns anhob, waren die Turiner der Maßstab für gestalterische Innovation,  an den Zeichentischen werkten herausragende Talente, die früher oder später, meist an der Spitze eigener Salons, den Ruf der Italiener mehren sollten.

Ästhetisierter Brutalismus

Wie etwa Franco Scaglione, der der Welt die schrillen B.A.T.-Konzeptgeräte von Alfa Romeo schenken sollte. Oder der in vielerlei Hinsicht maßgebliche Giorgio Giugiaro, der 1959 zum Leiter des Bertone-Stilistik aufsteigen sollte. Später dockte ein gewisser Marcello Gandini bei den Turinern an. Beide waren mehr Künstler als Designer, die ein schnödes Automobil mit Aura aufzuladen vermochten. Bertone: Das stand für eine Art ästhetisierten Brutalismus, das Ausreizen des gestalterisch Machbaren und für flirrende Studien, denen die Zukunft nie ausging.

Zusammengehalten wurde die Künstlerkommune mit angeschlossener Fabrik von Giuseppe Bertone, Rufname "Nuccio". Der 1914 geborene Turiner war einer jener kernverrückten italienischen Allrounder, die sich in den 1920ern und 1930ern mit dem Rennsport infizierten, selbst im Cockpit saßen, ihre Boliden bis zum letzten Splint kannten – und irgendwann, meist aus Geldnot, begannen, über Kleinserien in das Autogeschäft zu finden: Enzo Ferrari, die Maserati-Brüder oder Vincenzo Lancia hießen die wesentlichen Vertreter dieser Spezies.

Masse und Macht

Bei Nuccio Bertone hingegen war die Gestaltung der Karosserien mehr als nur ein Faible. Der Mann, der 1934 in die Firma seines Vaters einstieg, war selbst ein überragender Formgeber, der sich auch in die Gestaltungsprozesse seiner Stars einbrachte. Daneben hatte Nuccio ein gutes Gespür fürs Geschäft: Bedarfskarosseriebau war eines, ein sehr einträgliches sogar.

Nach 1945 übernahmen die Italiener die Produktion diverser Kleinserien, mit denen sich die Hersteller nicht aufhalten wollten. Meist fehlte ihnen auch schlicht das Know-how. Fiat, Alfa, Simca, Lamborghini oder Opel ließen in der Nähe von Turin ihre Nischenmodelle fertigen – und adelten das Outsourcing mit einem Bertone-Logo an den Flanken. Imagetransfer nennt man das heute. In der Designabteilung perfektionierte man ab den 1950ern den Spagat zwischen massenkompatiblen Entwürfen und legendären stilistischen Experimenten.

Schleichender Tod

Als der Padrone hochdekoriert – sein Name schmückt die wesentlichen Weihestätten des Industriedesigns – im Jahr 1997 stirbt, sind die Heydays für das Unternehmen vorüber. Mitte der 2000er-Jahre gerät die Unternehmensgruppe in finanzielle Schieflage, die Fabrik in Grugliasco muss an Fiat verkauft werden, das Designstudio bleibt vorerst selbstständig und hält sich mit Auftragsarbeiten über Wasser.

2008 ist Bertone zum ersten Mal insolvent, 2011 werden gar die Ausstellungsstücke des Bertone-Museums verkauft, um die Firma über die Runden zu bringen. Doch Anfang dieses Jahres geht den Italienern endgültig das Geld aus. Im April keimt noch Hoffnung, mehrere Interessenten würden sich für die ehemalige Kultstätte interessieren, hieß es. Doch nach einem kurzen, zähen Ringen ist es nun Gewissheit: Bertone, über Jahrzehnte hinweg Erfinder der Zukunft, ist Vergangenheit.

Wir zeigen aus gegebenem Anlass einige Höhepunkte aus dem Schaffen von Stile Bertone. Eine Ansichtssache:

Nachdem sich Bertone vor dem Zweiten Weltkrieg bereits mit einigen außergewöhnlichen Entwürfen (Fiat 501 Sport Siluro Corsa), einer fruchtbaren Zusammenarbeit mit Vincenzo Lancia und der schlauen Idee, den Bau von Einzelstücken in halbwegs profitable Kleinserien zu überführen, hervorgetan hatte, hob die Firma Anfang der 1950er richtig ab. Mit dem Coupé von Alfa Romeos Topseller Giulietta zeigte Bertone zum einen zukunftsweisende Designkompetenz, zum anderen baute man die hübsche Sprintversion gleich selbst. Schlaue Synergie.

Foto: alfa romeo

Mit mehr Aplomb ging Bertone gemeinsam mit dem Flugzeugkonstrukteur Franco Scaglione drei futuristische Studien namens "Berlinetta Aerodinamica Tecnica", kurz B.A.T., an. Ab 1953 liefen die für Alfa Romeo auf. Die Versuchsfledermäuse mit den Nummern 5, 7 und 9 dienten der Erforschung der Stromlinie - und mehrten Bertones Ruhm.

Foto: alfa romeo

Anfang der 1960er drang Bertones Frohbotschaft bis in die USA. General Motors, von Chryslers italienischen Liebeleien mit Pininfarina und Ghia aufgestachelt, schickte ein paar Chevrolet Corvairs nach Turin. Heraus kam der unfassbare Chevrolet Testudo (im Bild mit Nuccio Bertone). Jungstar Giorgetto Giugiaro erschuf ein exaltiertes Coupé - das den Amerikanern trotz der Jet-Fighter-Kanzel nicht zu vermitteln war.

Foto: bertone

Diese rote Faust bot Giugiaro den Kollegen von Alfa im Jahr 1964 an. Die aus Fiberglas gefertigte Studie namens Canguro kam über eine Prototypen-Rolle nicht hinaus.

Einen riesigen Erfolg landete die Carrozzeria mit dem Fiat 850 Spider. Ab 1965 und während einer achtjährigen Bauzeit wurden 140.000 Einheiten verkauft. In den USA kam der Miniatur-Roadster ebenfalls blendend an. 49 PS reichten damals noch aus, um ein Leben in Sünde zu führen.

Foto: fiat

Bei Lamborghini griff man hingegen in die Vollen und kreißte einen Revolutionär des Sportwagen-Designs, den Miura. Nuccio Bertone und Kumpel Ferruccio Lamborghini waren klassische Vertreter des Leistungsimperialismus, den Macho-Habitus der Chefs übersetzte Bertone-Stilist Marcello Gandini in einen Sportwagenklassiker.

Foto: lamborghini

1967 zeigte Bertone seinem Buddy den Lamborghini Marzal. Die kühlen geometrischen Formen wiesen bereits den kantigen Looks der 1970iger den Weg. Der 12-Zylinder-Glashaus war ebenfalls ein Gandini-Entwurf, einige Details flossen in den Lamborghini Espada ein. Als 2011 im Bertone-Museum Abverkauf war, wurde das Unikat um 1,5 Millionen Euro versteigert.

Foto: lamborghini

1970 streute Bertone seinen Sternenstaub über Alfa Romeo aus. Der Montreal war bloß eine Studie und sollte nur als Showstopper dienen. Als Publikum und Fachwelt jedoch eine Serienproduktion verlangten, schraubte Alfa unter die energetische Silhouette Massen-Technik aus dem Regal samt 200-PS-Frontmotor. Wer hinter den seitlichen Lüftungsschlitzen einen Mittelmotor vermutet, vermutet ergo falsch.

Foto: alfa romeo

Stilbildend für das Supercar-Geschäft der Seventies sollte hingegen der Lamborghini Countach werden. Der LP400, der von Gandini ersonnen wurde, ließ jeden Ferrari irgendwie liebreizend aussehen. Die simple Form als Botschafter eines archaischen Radikalismus - das war und ist die Kernaussage des ersten Countach.

Foto: lamborghini

Kompromisslos ging auch diese Studie das Thema Lamborghini an. Der Athon von 1980 sollte Bertones Dauer-Kunden in eine Art Zukunft führen. Marc Dechamps verantwortete den neuen Kantianismus, der Athon blieb ein Einzelstück.

Foto: bertone

Neben Lamborghini verdingte sich Bertone vor allem für Lancia. Um die Kollegen zum Bau eines Sportcoupés zu animieren, fuhr Nuccio - so geht die Legende - mit einem futuristischen Faustkeil bei Lancia vor. Angefixt und dankbar griffen die Italiener zu. Der Lancia Stratos Zero genannte Prototyp sollte die stilistische Vorlage, für eine echte Drecksau geben.

Foto: bertone

Den Lancia Stratos HF. Das Mittelmotor-Geschoss debütierte in der Zivilversion im Jahr 1971 und katapultierte sich in der Hardcore-Version in die Geschichtsbücher der Rallye-Weltmeisterschaften. 1974, 1975 und 1976 holten die Italiener den Titel - und zertrümmerten die Konkurrenz.

Foto: lancia

Ein stilistischer Spin-off war der Fiat X1/9. Der schmucke, zwischen 1972 und 1988 gebaute Klein-Keil vereinte alles, was das Volk gemeinhin mit Sport assoziiert: Klappscheinwerfer! Mittelmotor! Targadach!

Foto: fiat

Bloß ein Fertigungsjob war der Volvo 262C. Die Schweden waren dringend auf der Suche nach einem Edel-Coupé für den US-Markt, das Ergebnis war ein etwas unentschlossen wirkender Block. Volvo-Hausdesigner Jan Wilsgaard hatte schon bessere Tage.

Foto: volvo

Einer der bekanntesten Auftragsarbeiten, zumindest im deutschsprachigen Raum, war das von Bertone entwickelt und gebaute Cabrio vom E-Kadett. Kam 1987 auf den Markt und schmückte den avancierten Land-Yuppie. Zerstörte angeblich manch Dauerwelle. Opel war dennoch ein treuer Kunde und ließ weitere Cabrios und das Astra-G-Coupé bei den Italienern bauen.

Foto: opel

Gleich mehrmals griff Citroën auf die Dienste der Italiener zurück. Beim exaltierten 1982er BX verkaufte Bertone eine Designstudie, die von Volvo abgelehnt wurde, gen Frankreich weiter. Mit dem XM, den Bertone gemeinsam mit den Franzosen entwickelte, gelang einer der wenigen Leuchttürme im Automobildesign der 1990er.

Foto: citroen

Der Innovationswille war dem superschlauen BMW C1-Motorroller zweifellos anzusehen. Bertone war aufgerufen, den halbierten Smart ab dem Jahr 2000 zu produzieren. Da die Gegenwart noch nicht so viel Lust auf Zukunft hatte, floppte der Roller - was auch den italienischen Hersteller hart traf.

Foto: bmw

Ab Mitte der Nullerjahre hangelte sich Bertone von einem Job zum nächsten. Doch die wirklich lukrativen Aufträge blieben aus. Also griff man zum alten Trick, Massenherstellern eine Studie vor die Tür zu stellen, um sie zum Serienbau zu animieren. Einer der letzten Versuche war der Jaguar B99 von 2011. Doch die Engländer bissen nicht an. Mühsam hielt man sich mit kleineren Jobs im Geschäft, doch Anfang Mai krachte das Unternehmen endgültig zusammen. Bertone, dem Meister der Zukunft, war die Zukunft ausgegangen. (Stefan Schlögl, derStandard.at, 20.5.2014)

Foto: bertone