Hélène Cixous, vor kurzem zu Gast im Wiener Tanzquartier: "Die Menschen lesen immer weniger." 

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STANDARD: Welche Beziehungen unterhalten Sie zu Wien? Die Stadt galt einst als Versuchsstation der Moderne. Zeitgleich entstand in Wien um 1900 auch das Werk eines Frauenhassers wie Otto Weininger. Ist Fortschritt nur um den Preis solcher Schattenseiten zu haben?

Cixous: Ich glaube nicht, dass der Gegensatz von Finsternis und Licht eine spezifische Eigenschaft der Moderne ist. Ich weiß im Grunde auch gar nicht, was Modernität ist. Für mich ist es die Referenz an eine geschichtliche Periode, die man vielleicht einmal so genannt hat. Ich kann nicht wirklich einen Unterschied erkennen. Ich nehme eine permanente Gegnerschaft wahr zwischen dominanten Kräften und solchen, die unterdrückt werden. Oder zwischen Phallokratie und ihren Opfern. Um über Österreich zu sprechen: Als ich Ingeborg Bachmann las, beschlich mich das merkwürdige Gefühl, in einen Spiegel zu blicken. Was sich ändert, ist das Bühnenbild; die Fragen bleiben die gleichen. Leidenschaften und Konflikte wiederholen sich. Sie tragen lediglich andere Masken.

STANDARD: Das alte Stück, geringfügig überarbeitet?

Cixous: Wiederholungen machen sich geltend. Geschichte ist lediglich eine Art, Unterwerfung herzustellen. Das hat bereits James Joyce gewusst: Geschichte ist ein Albtraum, aus dem man zu erwachen hofft. Ich will nicht pessimistisch erscheinen. Selbst oberflächliche Veränderungen sorgen für Verbesserungen. Man gewinnt Freiräume, Platz für Individualität.

STANDARD:  Und in Frankreich?

Cixous: Wir hatten gerade einen Zwischenfall von bemerkenswerter Stupidität und hasserfüllter Verrücktheit, hervorgerufen durch reaktionäre Kräfte. Gendertheorie wurde von ihnen als Werk Satans verteufelt (Anm.: Extremisten unterschiedlicher Couleur verlangten die "Reinigung" französischer Kinderbibliotheken von missliebigen Werken). Es gab nicht einmal einen Anlass für eine solche Eruption des Hasses. Es sprudelte einfach heraus, um dunkelste Instinkte zu befriedigen. Die Ursprünge menschlichen Daseins sind davon betroffen. Begriffe wie "ich", "I", "me", "mich" werden davon betroffen, der ganze Reichtum menschlicher Daseinsformen. Der passt einer großen Zahl Menschen nicht. Du musst "eins" sein, ununterscheidbar, alles andere wird abgelehnt. Theater ist einer der Orte, der mit wechselnden Identitäten Umgang pflegt. Wie sollte man sich einen Schauspieler vorstellen, der bloß er selbst ist, nicht in sich selbst unterschieden, nur männlich oder weiblich? Das wäre lächerlich.

STANDARD:  Borniertheit gibt es nicht nur in Frankreich?

Cixous: Dummheit ist überall am Werk. Wenn Bachmann sagt, Krieg sei ein Synonym für Liebe, so gilt das auch heute. Der Krieg existiert, und es gibt Fortschritte, nicht unbedingt Verbesserungen.

STANDARD:  Wie sähen die aus?

Cixous: Es gibt, vom sozialen Standpunkt aus gesehen, durchaus neue Fakten. Die Möglichkeit zu dem, was man "Homoehe" nennt, wird in immer mehr Ländern praktiziert. Und es gibt immer mehr Menschen, die davon profitieren.

STANDARD: Ihr Text "Das Lächeln der Medusa" feiert die Sprache der Weiblichkeit, die männlichem Herrschaftswissen entgegengehalten wird. Was hat sich seit 1975 verändert? Sind die emanzipatorischen Diskurse nicht ärmer, poesieferner geworden?

Cixous: Es gab eine Zeit, in der es gang und gäbe war, Bewusstsein zu entwickeln, gerade mit Blick auf Emanzipation. Wir sprechen von den 1970er-Jahren. Es ist richtig, dass die Energie, die während zweier Jahrzehnte aufgewendet wurde, ein wenig abgeebbt ist. Die diese Mühen auf sich nahmen, gaben ihr Projekt an Jüngere weiter. Aber nach jeder Revolution fällt irgendwann der Energielevel ab, und eine gewisse Faulheit greift um sich. Das ist die Konsequenz der jüngeren Generation, die meint, alles Wesentliche sei zur Zufriedenheit erledigt. Im Radio höre ich Stimmen, die feststellen, dass Frauen weniger Geld für die gleiche Arbeit gezahlt bekommen. Oder es sitzen noch immer zu wenige Frauen im Parlament. Da kommen sie heute drauf!

STANDARD: Es herrscht Ignoranz vor?

Cixous: Die Menschen lesen immer weniger und wissen immer weniger. Sie besitzen keine Erinnerung und kehren der unmittelbaren Vergangenheit den Rücken. 15 Jahre sind für sie ein Jahrhundert! Sie verlieren, was wir erworben haben. "Armut" existiert. Frankreich befindet sich in einem besonders erbärmlichen Zustand. Niemand in der Regierung hat jemals ein Buch gelesen. Wir werden zu Wüstenbewohnern. Natürlich wird etwas passieren. Es wird sogar eine Revolution geben. Ich weiß nur nicht wann! Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Menschheit einwilligt, unproduktiv und unfruchtbar zu sein. Dass sie jede Vorstellung von Begehren verloren hat. Das Begehren wird natürlich erwachen. Es schläft nur. Ich kann nicht glauben, dass dieser Schlaf ewig währt. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 25.3.2014)