Was bei der Diagonale zu sehen war: Der Wiener Filmemacher Manfred Neuwirth hat mit "Tibet Revisited" ein völlig untouristisches und dennoch poetisches "Dokument" geschaffen.

Foto: Diagonale
Graz - Normalerweise bevorzuge er es, den Betrachtern möglichst viele Seh- und Lesarten zu erhalten, sagt der Filmemacher. "Nur eins möchte ich dieser Vorführung voranstellen, und das ist vielleicht ein Widerspruch zum vorher Gesagten: Dies ist ein Film aus einem besetzten Land."

Und dann sieht man: Kinder auf einem Trampolin, Männerhände beim Würfelspiel, einen Hauseingang, eine Rollschuhbahn. Popmusik, süßliche Folkloreklänge. Rund drei Minuten lange Einstellungen, an den Rändern zum Schwarz der Leinwand eigentümlich weich gezeichnet. 28 Aufnahmen, die in sich eine ungeheure Vielfalt an Informationen, Klängen, Details bieten - und doch werfen sie den Betrachter nicht zuletzt auf das zurück, was ihm "außerhalb der Bildränder" an Information fehlt. Vielleicht müsste er sich selbst auf den Weg machen, so wie es der Wiener Film-, Video- und Reisekünstler Manfred Neuwirth mit Tibet Revisited gewagt hat.

Entstanden ist dabei ein völlig untouristisches, dennoch poetisches "Dokument". Eine Szenenfolge, in der man deutlich spürt, dass die gezeigten Verhältnisse dem Porträtisten mittlerweile durchaus vertraut sind (Neuwirth lebt und wohnt immer wieder in Tibet), und dennoch lässt er sich auf keine Vertraulichkeiten ein, niemals reduziert er die "fremden" Oberflächen auf Illustrationen für etwaige Thesen darüber, wie das denn jetzt "wirklich" sei, dort drüben unter den chinesischen Besatzern.

Fast wünscht man sich, Manfred Neuwirth würde ähnliche Aufnahmen jetzt und heute in Österreich produzieren.

Zum Beispiel in Graz, aus Anlass der Diagonale, wo am Montag junge Kritiker und Filmemacher (etwa aus Anlass der jüngsten, teilweise mit exzellenten Texten bestückten Ausgabe des Periodikums Film-Kolik) über Themen wie "die Darstellbarkeit politischer Prozesse im Gegenwartskino" diskutierten - vor schockierend wenig Publikum, wenn man mitbedenkt, wie laut bei der Diagonale seit 2000 "mehr Politik!", "Opposition!", "Widerstand!" gerufen wurde. Was würde Neuwirth in diesem etwas gleichgültig anmutenden neuen "Frieden" wahrnehmen?

Tanzende, scherzende, fröhlich abhängende Menschen bei diversen, für derartige Festivals heute obligaten DJ-Abenden? Dieselben Leute, vorher und später beim Genießen der ersten Frühlingstage und Sonnenwärme vor den Kinos? Zuhörer bei Diskussionen nach den jeweiligen Vorführungen? Oder Künstler, die draußen in den Foyers auf ebendiese Diskussionen warten und währenddessen wieder einmal erzählen, welche Schwierigkeiten ihnen zum Beispiel der ORF bei der Realisation interessanter Stoffe schon bereitet hat?

Nun, für Letzteres wäre Manfred Neuwirths Blick wohl zu wenig an aufgelegten und etwas zu gleichmütig vorgetragenen Polemiken interessiert. Was sollte er zum Thema ORF, zumindest vor Ort, denn auch zeigen? Außer als Logo ist der Küniglberg hier nicht präsent, steht also auch für Debatten nicht zur Verfügung, so wenig wie VP-Kunststaatssekretär Franz Morak, der es wieder einmal vorgezogen hat, der Diagonale fernzubleiben. Obwohl die neue Intendantin Birgit Flos beharrlich und etwas monoton darauf beharrt, dass das Verhältnis zum Bundeskanzleramt "okay" sei: Es gehe doch jetzt vor allem um "(filmische) Bewegung in heiterer Gelassenheit".

Diese Gelassenheit zeitigt im diesjährigen Programm, soweit man das nach den ersten Vorführungen schon beurteilen kann, einen Hang zu relativ flotten Moderationen und einer teilweise eher problematischen Auswahl: Diese muss einerseits halt natürlich mit dem Wenigen, das da ist, ihr Auslangen finden. Andererseits geht sie zum Mediokren, das man auch zeigen muss (schwache Spielfilme wie c(r)ook) oder will ("sympathische" Dokumentarfilme mit "bewegenden" Themen), nicht ausreichend auf Distanz. Wer dieser Tage etwa in Kurzfilmprogramme mit fetzenden Titeln wie rest-test geht, kommt aus dem Entsetzen nicht mehr heraus:

Die Raumstudien

Muss man zum Beispiel kleine, feine Miniaturen von Dietmar Brehm (Fit) oder durchaus diskutable virtuelle Raumstudien wie Harald Holbas Bitcrusher tatsächlich mit animierten Disco-Tapeten und dekorativen Fingerübungen kompilieren, um publikumstauglicher herüberzukommen? Warum wird ein neuer Film von Wolfram Paulus nicht gezeigt, wenn es c(r)ook ins Festivalprogramm geschafft hat?

"Mehr Öffentlichkeit!", juchzt oder jeiert man rund um derartige Anlässe gern. Oder: "Da sind wir uns doch einig, oder?" Und ein "politischeres Kino" hätte man gerne. Aber letztlich wird einmal mehr klar, dass man (sich) solche Programmatiken nicht verordnen kann. Genauso wie die Kuratoren letztlich ja ganz offenkundig von sich aus kein "intelligentes", erstklassiges Programm erstellen können, wenn nicht die Leistungen einzelner Künstler eben so ein Programm wie von selbst entstehen lassen (was im Übrigen bekanntlich nicht nur ein Problem des heimischen Kinos ist). Von nichts kommt nichts. Aber wie kommt man zu etwas? Gute Frage.

So ist diese Diagonale vorerst ein wenig wie ihr Verhältnis zu den staatlichen Förderungsgebern: "okay". Welche Limits hinter so einem "Okay" stecken - ein Filmemacher wie Manfred Neuwirth könnte es vielleicht gerade als Aussparung, außerhalb und zwischen den Bildern wenn schon nicht darstellen, so doch virulent werden lassen. Schnell einen Verleih für Tibet Revisited, bitte! (DER STANDARD, Printausgabe, 17.03.2005)